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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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egal.» Sie knallte mit der Tür, ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen und fing zu schluchzen an. Sie tupfte sich heiße Tränen von den Augen, denn natürlich war es ihr nicht egal. Es war ihr kein bisschen egal. Und nun musste sie hier herumsitzen und mit anhören, wie Tibo auf der Suche nach Papier in seinem Arbeitszimmer herumpolterte. Sie musste ihm welches geben, nachdem er endlich die Suche aufgegeben hatte und herausgekommen war. Während er schrieb, lauschte sie dem Kratzen seines Füllers auf dem Papier; sie bildete sich ein, das Schaben auf ihrer Haut zu spüren. Sie reichte Tibo einen Umschlag und nahm eine rote Briefmarke aus der kleinen Schublade, und als Tibo auf dem Weg zum Briefkasten aus dem Büro marschierte, schaute sie ihm stumm nach.
    «Ich halte Sie keineswegs für lächerlich», sagte Tibo, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Und so leise, dass er es nicht hören konnte, antwortete Agathe: «Ich halte Sie keineswegs für feige.» Und dann musste sie wieder ein bisschen weinen, weil sie ihn nicht beschützen oder ihm seine Probleme abnehmen konnte.
     
    Sie tat, was sie konnte. Sie erledigte ihre Arbeit sorgfältig. Sie kochte ihm Kaffee. Sie erzählte ihm lustige Anekdoten von Achilles, dem Kater, und sie weigerte sich standhaft und eisern zu tratschen – «aber sagen Sie es keiner Menschenseele weiter!»   –, über die Frau des Stadtschreibers beispielsweise und was die sich beim Bibelschulausflug erlaubt hatte. Sie brachte Tibo die Abendzeitung, aber nie, niemals, erzählte sie von zu Hause, von Stopak und Hektor.
    Tibo wiederum tat für sie, was er konnte. Er war ein freundlicher und verständnisvoller Arbeitgeber. Er war stets höflich und fragte nett, wann immer er etwas wollte, niemals verlangte er ihr Überstunden ab, und immer sorgte er dafür, dass sie Kekse zum Kaffee bekam, manchmal sogar Kuchen, und nie, niemals, erwähnte er, dass er verrückt nach ihr war und sein Verlangen unerträglich. Darüber hinaus wachte er andächtig über sie, auch wenn das bedeutete, dass er zwölfmal täglich vom Schreibtisch aufstehen musste, um die Tür zwischen ihren Zimmern zu öffnen, oder dass er, sobald sie in die Mittagspause ging, losrannte wie ein Irrer, um sie vom Rathausturm aus zu beobachten. Tibo tat, was er konnte. Er spürte ihren Schmerz. Er sah ihn wie in einem Spiegel, und deswegen wachte er über Agathe.
    Und nichts anderes tat er an jenem Spätsommertag, als Agathe sich an den Rand des Rathausbrunnens setzte und aus Versehen ihre Brotdose ins Wasser fallen ließ.
    Schauen Sie von der Spitze des Rathauses hinunter, so, wieder gute Tibo Krovic es an jenem Tag tat, so, wie er es seither, viele Tage und Nächte später, in seiner Erinnerung unzählige Male getan hat. Betrachten Sie den Platz, die vielen Menschen, einige davon fröhlich, andere wütend, einige einsam, andere geliebt, hübsche Mädchen und unscheinbare, der verlauste alte Landstreicher mit dem kaputten, pfeifenden Akkordeon am Arm, der Polizist, der ihn zum Weitergehen drängt, der Hund an der Leine, die ratternde Tram. Es ist ein heller Nachmittag Anfang September, der Sommer liegt in den letzten Zügen. Die Blumen auf den Fensterbrettern legen sich ein letztes Mal ins Zeug, die Blumen in den Hängeampeln mühen sich, ein letztes Mal bunt zu leuchten, es ist ein letzter, furioser Trompetenstoß, wie, um die städtischen Geranien von Umlaut zu übertreffen. Und Frau Agathe Stopak, groß und vollbusig und rosarot, sitzt am Rand des Brunnens und erlaubt den Sonnenstrahlen, sie zu küssen.
    Schauen Sie sie an. Sehen Sie sie durch die Augen des guten Tibo Krovic. Betrachten Sie ihre Figur, die Kurven und Linien. Sehen Sie, wie federleicht ihr Fuß auf dem Poller ruht, wie die Zehenspitzen aus der Sandale hervorlugen, beobachten sie den sanften Bogen ihrer Ferse, den Schwung ihrer Knöchel, die Rundung der Unterschenkel, das Grübchen in der Kniekehle und, weiter oben, unter dem Saum ihres gepunkteten Seidenkleids, die Andeutung von Schenkel und Strumpfrand und Strumpfhalter. Beachten Sie die Slalomkurven, die vom Kinn an abwärts über die Brüste laufen, den Formen einer Statue in einem Hindutempel gleich; die mathematische Unmöglichkeit der Taille, die Schwellung des Bäuchleins, die Pobacken, ausgebreitet und ergeben angepasst an die Form der marmornen Brunnenkante. Sehen Sie, wie sie sich bewegt, wie anmutig, wie freudig, und wiesie sich das karierte Tuch über die Knie breitet. Eine sitzende Salome.
    Sie

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