Die Liebeslotterie
wirklich peinlich und albern, wieder aufzustehen. Simon hatte sich fürs Stehen entschieden. Er konnte seine Meinung nicht ändern. Nun schauten also beide in dieselbe Richtung, wo ich mit ausgestreckten Gliedern an der Wand hing wie ein bärtiger, an einen Schild gespießter Schmetterling. Der Konversation war das wenig zuträglich, aber dafürhatte Bürgermeister Krovic einen freien Ausblick auf Simons Nacken und die vielen roten Flecken, die das Rasiermesser des Friseurs am Morgen dort hinterlassen hatte. Über dem Kragen standen die Stümpfe dreier Pickel als blutige Kraterreihe nebeneinander.
Tibo griff kurzentschlossen zur Abendzeitung. Dann fragte er: «Möchten Sie wirklich nicht sitzen?»
«Nein, ich bleibe stehen.» Zum Sprechen drehte der Junge den Kopf ein Stück zur Seite. Die Bewegung hatte einen Ausbruch in seinem Nacken zur Folge. Der Hemdkragen färbte sich blutrot.
«Na schön», sagte Tibo.
Und endlich, nach einer Ewigkeit, kam Agathe zurück. Sie hatte Peter Stavo dabei, der sich gezwungenermaßen seines braunen Arbeitsoveralls entledigt hatte und gar nicht so übel aussah; und was Kate betraf, so hatte Agathe wahre Wunder bewirkt. Als der Junge sich zu ihr umdrehte, verzog sich sein verwüstetes Gesicht zu einem breiten Lächeln. Auf mysteriöse Weise hatte Agathe während ihrer Abwesenheit eine Braut aus Kate gemacht. Sie hatte Kates Frisur verändert, ihr einen Seidenschal um den Hals gebunden und das Schminksortiment, das sie stets bei sich trug, zum Einsatz gebracht. Außerdem hielt Kate einen blauen Blumenstrauß in der Hand. Tibo erkannte den Strauß wieder. Er stammte aus der Silbervase, die zum ständigen Gedenken vor dem Gemälde von Bürgermeister Skolvigs letztem Gefecht stand. Wieso auch nicht?, dachte Tibo. Die Blumen zu stehlen war mindestens so mutig wie alles, was Skolvig je gewagt hatte.
Peter Stavo kam nach vorn und stellte sich neben Simon. «Alles Gute», sagte Peter, schüttelte Simon die Hand, und Agathe nahm lächelnd ihren Platz neben Kate ein.
Plötzlich bemerkte Tibo, dass alle lächelten. Agathe hatte sich dieser kleinen, schäbigen, peinlichen Veranstaltung angenommen und etwas Besonderes daraus gemacht. Tibo trat ans Rednerpult und hielt seinen Vortrag, und als es für Kate und Simon an der Zeit war, sich bei den Händen zu nehmen, nahm Agathe Kate den Blumenstrauß ab und stellte sich an die Seite. Sie hielt die Blumen fest und starrte mit gesenktem Kopf darauf.
Tibo hatte den Text schon unzählige Male vorgelesen, aber nun kam es ihm so vor, als hörte er die Worte zum ersten Mal. Die Poesie, die großen Gesten, die Gefühle einer kirchlichen Trauung hatten sie hier nicht zu bieten. Es handelte sich um einen nüchternen, bürokratischen Akt, nicht aufwändiger als die Erteilung einer Hundemarke oder einer Falknerlizenz, aber plötzlich und aus unerfindlichem Grund wurde Tibo ganz sentimental. Er las Simon die Floskel vor, die dieser stockend wiederholte, aber während er las, stellte er sich vor, er spräche zu Agathe, zu Agathe allein.
Da stand sie in ihrem blauen Kleid und blickte sittsam in einen Strauß geborgter Blumen, während er sich ihr in Ewigkeit versprach, ihr allein, und er fühlte sich töricht, er fühlte, wie töricht das alles war – derselbe alberne Sinn für Anstand, Konventionen und Konformität, der diese beiden jungen Leute zusammenschweißte, hielt ihn von einer Frau wie Agathe fern.
Als Tibo sagte: «Du darfst die Braut jetzt küssen», liefen ihm Tränen über die Wangen. Agathe hob den Kopf, sah in sein Gesicht und fing ebenfalls zu schluchzen an.
«Du Heulsuse», tadelten ihre Lippen stumm, und dann wandte sie sich ab, um sich die Augen zu trocknen.
Und so endete die Zeremonie nicht auf der Hintertreppe,sondern vor dem Vordereingang, auf der Rathaustreppe, mit glücklichen Gesichtern und Gelächter und einer Dusche aus Konfetti, das Peter aus den Lochern von einem Dutzend Rathausangestellten zusammengesammelt und in die Luft geschmissen hatte, als Tibo aufmunternd «Bitte lächeln!» rief.
Es blieb noch Zeit für ein Getränk im Phönix – «Nur eins. Ganz ehrlich, nicht mehr als eins. Ach, herrje, na gut, wenn ihr unbedingt wollt. Aber nur noch eins, und dann ist Schluss!» –, bevor alle sich mit einer Umarmung voneinander verabschiedeten – «Der Schal? Behalt ihn! Er ist mein Hochzeitsgeschenk!» – und nach Hause eilten. Tibo lief die Schlossstraße hinauf, Agathe stellte sich an die Tramhaltestelle am
Weitere Kostenlose Bücher