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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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Tintenschriftzug in der linken oberen Ecke: «Streng geheim und privat!»
    Tibo nahm den Brief. Er wog ihn in der Hand. Er balancierte ihn aus, klemmte ihn sich diagonal zwischen die Zeigefingerspitzen, wo sich die starken Papierecken einbohrten wie winzige Dolche. Tibo blies dagegen und brachte ihn zum Rotieren. Dann warf er ihn zurück auf den Schreibtisch. Gerade in dem Moment, als er seinen Sessel zurückschieben, sich erheben, zur Tür gehen und Agathe umeinen Kaffee bitten wollte, kam diese mit einem Gedeck herein.
    «Ich will ja nicht neugierig sein», sagte sie in besorgtem Tonfall.
    «Nein, ist schon gut», sagte Tibo. «Ich habe schon länger damit gerechnet. Ich weiß, was in dem Umschlag steckt.»
    «Ach so», sagte Agathe. Trotzdem blieb sie mit ineinander verschlungenen Händen auf der anderen Schreibtischseite stehen.
    Tibo schob die Spitze seines kleinen Fingers unter die Umschlagklappe und riss das Papier auf. Das himmelblaue Seidenfutter stand zerfetzt heraus wie ein Wundrand. Tibo las laut vor: «Lieber Krovic, wie Sie sicher wissen, hat sich Rechtsanwalt Guillaume anlässlich Ihres Auftretens während einer Gerichtsverhandlung bei mir beschwert. Tibo Krovic, Sie sind ein guter Mann und leisten gute Arbeit. Wir brauchen mehr Männer Ihres Schlages.
    Hin und wieder hat sich jeder eine halbe Stunde des Wahnsinns verdient. Niemand ist zu Schaden gekommen, und selbst Guillaume ist der Meinung, sein Mandant habe verdient, was er bekam. Stellt sich der Sachverhalt wie von Guillaume beschrieben dar, muss ich Sie nicht darauf hinweisen, wie ernst die Sache in der Tat ist; falls Sie mir jedoch etwas anderes versichern können, werde ich Ihre Erklärung als zufriedenstellend betrachten. Ich schreibe Ihnen mit meinem Füllhalter und aus meiner Privatwohnung, und vermutlich muss ich nicht dazuschreiben, dass es sich um ein vertrauliches Schreiben handelt. Mein Junge, ich weiß, Sie sind in der Lage, die Angelegenheit schnell aus der Welt zu schaffen.»
    Der Brief war mit einem schwungvollen «Richter Pedric Gustav» signiert.
    Mit einem grimmigen Seufzen ließ Tibo ihn auf den Schreibtisch fallen. «So viel also dazu.»
    «Was soll das heißen? Der Brief ist doch allerliebst.»
    «Frau Stopak, achten Sie auf die Wortwahl! Er fordert meinen Rücktritt!»
    Agathe schnappte sich den Brief. «Hören Sie», sagte sie, «hören Sie genau zu. ‹Ich weiß, Sie können es aus der Welt schaffen›, ‹dieses Schreiben ist vertraulich›. Er will, dass Sie im Amt bleiben. Er bittet Sie darum. Mit keinem Wort fordert er Ihren Rücktritt.»
    «Frau Stopak, man könnte es bestenfalls als eine Aufforderung zum Lügen betrachten.»
    «Seien Sie nicht albern. Niemand will Sie auffordern zu lügen.»
    «Doch, Richter Gustav! Dieses ganze Gerede von einer halben Stunde des Wahnsinns, von Yemko Guillaume, der angeblich um die Schuld seines Mandanten weiß. Dächte Guillaume tatsächlich so, hätte er sich nie und nimmer beim Richter beschwert. Und falls Gustav überzeugt wäre, dass mir auch nur der Hauch einer Chance bliebe, hätte er den Brief seiner Sekretärin diktiert. Dann würde er nicht so eine Geheimniskrämerei betreiben und mir heimlich aus seiner Privatwohnung schreiben. Es handelt sich hier um eine sehr freundliche, sehr großzügige und sehr nette Rücktrittsaufforderung.»
    Agathe tippte den Brief mit dem Radiergummiende ihres Bleistifts an und schob ihn über den Schreibtisch. «Lassen Sie mich die Antwort schreiben. Ich brauche nur eine Minute. Überlassen Sie das mir.»
    «Frau Stopak, trotzdem muss mein Name darunterstehen. Ich muss den Brief unterzeichnen.»
    «Nein, müssen Sie nicht. Ich könnte ihn unterzeichnen und behaupten, Sie seien nicht im Büro gewesen.»
    «Ich weiß, dass Sie mir einen Gefallen tun wollen, aber nein, danke. Es ist lächerlich. Nein.»
    «Lächerlich? Nun bin ich auf einmal lächerlich?» Sie schnippte Richter Gustavs Brief über den Schreibtisch. «Dann machen Sie doch, was Sie wollen. Ich mag ja lächerlich sein   …»
    «Sie sind nicht lächerlich. Ich habe nicht Sie gemeint.»
    «Nun ja, ich mag ja lächerlich sein, aber wenigstens bin ich nicht   …» – Agathe hielt inne, um nach Luft zu schnappen   –, «wenigstens bin ich nicht feige.»
    «Feige?», fragte Tibo. «Sie halten mich für feige, nur, weil ich die Wahrheit sagen will?»
    Agathe stampfte aus dem Arbeitszimmer. «Ach, treten Sie meinetwegen zurück, wenn Sie unbedingt wollen», schnaubte sie. «Ist mir doch

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