Die Liebeslotterie
Hektor schwieg. Er aß alles auf, bedankte sich und ging.
Als Stopak um vier mit steifem Hals und unangenehm trockenem Mund auf dem Sofa erwachte, stand sein Teller mit den Broten immer noch dort, wo Agathe ihn abgestellt hatte – mitten auf seinem dicken Bauch.
So war es für Tibo und Agathe. Alle Tage sahen gleich aus. Nichts Besonderes passierte. Jeden Morgen standen sie auf und bestiegen in ihrem jeweiligen Stadtteil die Tram, um zur Arbeit zu fahren. Agathe wunderte sich und war traurig, weil niemand auf der Welt sie begehrte oder sich für sie interessierte, während gleich hinter der Tür, auf der anderen Seite der Wand, der gute Tibo Krovic furchtbar litt, weil er nichts und niemanden auf dieser Welt so begehrte wie Frau Stopak.
Und während der Tage, die sich am Läuten der Kathedralenglocken und am Klirren der Kaffeetassen vermessen ließen, und während der Wochen, die sich in neuem Schreibmaschinenfarbband und Sitzungen des Komitees für Erholung und öffentliche Parks vermessen ließen, hielten sie sich, ohne es zu ahnen, aneinander fest, nährten einander unwissentlich, versorgten die Wunden des anderen. Agathe verbrachte die Vormittage damit, die blaue Emaillebrotdose anzustarren, die genau dort auf ihrem Schreibtisch lag, wo zuvor das Päckchen aus dem Kaufhaus Braun gelegen hatte. Und wenn der Höhepunkt ihres Tages darin bestand, sich mit besagter Brotdose an den Rathausbrunnen zu setzen und die freudig Überraschte zu spielen angesichts der Brote, die sie am Morgenselbst geschmiert hatte, dann war dies auch der Höhepunkt von Tibos Tag. Können Sie ihn sehen, dort oben auf dem versteckten Rathausbalkon, neben dem Fahnenmast, hoch oben am Himmel, wo er steht und sie beobachtet, über sie wacht? Über den Dreh- und Angelpunkt seines Lebens?
Oder wenn Tibo allein in das alte Haus am Ende des blaugekachelten Gartenpfads zurückkam und in der Küche herumsaß, wo der Käse auf seinem Omelett geronn, weil Tibo sich durch seine Aktentasche voller Rathausdokumente wühlte in der Hoffnung, Agathe dort zu finden, in der Hoffnung, Agathe zu vergessen, stand Agathe in ihrer Wohnung in der Aleksanderstraße und dachte an ihn.
Wenn Stopak kalt und stumm und schnarchend im Bett lag, ohne die schöne, rundliche, wohlriechende Frau an seiner Seite zu bemerken, oder wenn Hektor sich in ihrer Küche herumtrieb, auf ihrem Herd Würstchen briet und in die Spüle spuckte, während auf dem Küchentisch seine Zigarette Rillen in die Tischplatte brannte und Stopak nebenan auf dem Sofa döste – dann war Agathes erster Gedanke: «Bürgermeister Krovic könnte so was nicht passieren. Jede Wette, dass Bürgermeister Krovic sich niemals so aufführen würde? Das kann ich mir bei Bürgermeister Krovic gar nicht vorstellen.»
Wenn sie im Bett lag und den kleinen Achilles kraulte, der unter ihren Händen zu einem starken, schlanken Kater mit säbelscharfen Krallen herangewachsen war, dachte sie vor dem Einschlafen an ihn. «Gute Nacht, Achilles», sagte sie dann, «gute Nacht, Achilles, und gute Nacht, Bürgermeister Krovic. Gute Nacht.»
Und am anderen Ende der Stadt, in dem alten Haus mit dem blaugekachelten Gartenpfad, konnte der einsame Bürgermeister Krovic sie hören; dann wälzte er sich in seinemBett unter der gesteppten Tagesdecke herum, die seine Mutter genäht hatte, als er noch ein kleiner Junge war, zog sie sich bis an die Ohren und murmelte schlaftrunken: «Gute Nacht, Frau Stopak. Gott segne und beschütze Sie.»
Sehen Sie, wie sie übereinander wachten?
DIE SOMMER in Dot sind kurz. Immer öfter blies ein kalter Wind über den Ampersand.
So und nicht anders war es an jenem Tag, als der Brief ankam – eine große, weiße Schneeflocke von einem Brief, die auf Tibos Schreibtisch lag, als er am Morgen ins Büro kam. Es war, als hätte sie den kalten Winter mitgebracht. Um die restliche Post hatte Agathe sich gekümmert, energisch hatte sie die Briefe aufgerissen und auseinandergefaltet, sie schlug die Seiten auf und klammerte sie an den dazugehörigen Umschlag, legte sie zu einem ordentlichen Stapel zusammen, brachte sie zu Tibos Schreibtisch und legte den eisernen Briefbeschwerer darauf, der aussah wie ein zerdrückter Türknauf. Nicht aber den weißen Brief. Der weiße Brief lag da und leuchtete wie ein Alarmsignal, stellte die übrigen Briefe in Sachen Qualität in den Schatten mit seinem beeindruckenden Gewicht, dem Büttenpapier, der Fütterung aus Seidenpapier und dem selbstbewussten
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