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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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langweilten sich jetzt. Es regnete stärker. Tibo ging weiter, zwischen den Docks hindurch auf die andere Seite, wo das Kopfsteinpflasterin einen Trampelpfad überging, der sich durch die Dünen schlängelte und zu einem langen Kiesstrand hinunterführte. Ganz an dessen Ende erhob sich ein großer, grauer Leuchtturm, der immer wieder in den Sturmböen verschwand. Tibo stolperte voran, während der Kies unter seinen Schuhen nachgab und knirschte, bis er schließlich die glatte Steinmauer am Fuß des Leuchtturms erreicht hatte. Er kletterte hinauf, lief über den flachen Wall, lehnte sich mit dem Rücken an den Turm und starrte aufs Meer hinaus, wo die Inseln sich im Regen versteckten. Er schrie, bis die Möwen zeternd in die Höhe flatterten: «Was, zur blödigen Hölle, tust du da, Krovic? Was tust du da? Soll so dein Leben aussehen? Ist das der Mann, der du sein willst – zu feige und zu dumm, um eine Frau zu küssen?» Er schlug sich die Hände vors Gesicht. «Was tust du da?»
    Weit hinter ihm, in der Stadt, wo die Straßenlaternen eine nach der anderen angingen, stand Agathe am Becken und spülte das schmutzige Geschirr, das Hektor und Stopak ihr hinterlassen hatten. Mantel und Handtasche hatte sie auf den Küchentisch gelegt und die Schuhe achtlos abgestreift. Sie benutzte eine kleine Bürste aus dickem Kupferdraht, und jedes Mal, wenn sie den Bürstenkopf ins trübe Spülwasser tauchte, fragte sie sich wütend: «Agathe, was tust du da? Was tust du da? Du liebe Güte, wie konntest du dich bloß so lächerlich machen? Soll so dein Leben aussehen?» Sie schrubbte die Bratpfanne, bis sie glänzte.
    Und gleich um die Ecke, im Gasthaus zu den Drei Kronen, wo der Wind von der Grünen Brücke pfiff und Regen an die Fensterscheiben klopfte, saßen zwei Männer am Ecktisch. Der eine war eingeschlafen und drückte sich eine Bierflasche halbwegs gerade an den riesigen Bauch, der andere saß kerzengeradeda und blinzelte, weil ihm der Qualm seiner Zigarette in die Augen stieg. Er zeichnete etwas, radierte es aus, zeichnete wieder, er hielt sein Skizzenbuch aufgeklappt auf den Knien und fragte sich: «Was zur blödigen Hölle tust du da? Zeichnest sie den ganzen Tag. Jeden Tag. Stellst dir vor, wie sie nackt aussieht, anstatt einfach hinzugehen und es herauszufinden. Was, zum Teufel, tust du da? Soll so dein Leben aussehen?»

 
    DRAUSSEN AM LEUCHTTURM, auf dem abgelegensten Fleckchen Erde, das sich noch Dot nennen darf, kehrte Tibo dem Sturm den Rücken, um nach Hause zu gehen. Er knirschte über den Strand, lief durch die Dünen und die Dockanlagen, wo die Huren ihre Nachtschicht antraten. Als er vorbeikam, riefen sie ihm ein «Hallo» zu und fragten, ob er einsam sei. Beinahe musste Tibo lachen. Er stapfte weiter, ohne zu antworten, er hielt sich auf der Straßenmitte und ignorierte die Männer in den dunklen Ecken, die ihn ihrerseits nicht beachteten. In der Kanalstraße und in der Ampersandallee tropfte das Wasser von den Ulmen auf ihn herunter. Ein großer Teil der Blätter war schon gefallen, und nun erledigte der Regen den Rest. Das Laub bedeckte den Fußweg wie ein rutschiger Teppich.
    Tibo erreichte den Rathausplatz. Er fischte in seinen Taschen nach dem Schlüssel und öffnete eine Seitentür, die zur Hintertreppe führte. Als sie hinter ihm ins Schloss fiel, schien das ganze Rathaus zu erbeben. Tibo streckte eine Hand im Dunkeln aus und ertastete das Geländer. Er schob seine Füße über den Kachelboden, bis er an die unterste Treppenstufe stieß, dann begann er zu zählen: «Eins, zwei, drei. Absatz. Kurve.» Dann zählte er fünfzehn weitere Stufen, noch einen Absatz und noch einmal fünfzehn Stufen, bis er sich auf dem Korridor zu seinem Büro wiederfand. Tibo stolperte und schlich durch die Dunkelheit, er tastete sich an AgathesSchreibtisch vorbei in sein Arbeitszimmer, wo er auf dem Schreibtisch nach der Lampe suchte. Als das Licht brannte, fühlte er sich schon besser. Nicht mehr wie ein Einbrecher, sondern zu Hause.
    Er zog seine tropfnasse Jacke aus, hängte sie an den Garderobenständer in der Ecke und setzte sich an den Schreibtisch. Zum ersten Mal seit längerem wagte er einen Blick in die Schreibtischschublade. Sie glitt mühelos heraus. Dort, ganz hinten, mit den Fingern gerade noch zu ertasten, lag die kleine braune Tüte mit dem Aufdruck «Städtische Kunstgalerie, Dot», und darin steckten die beiden unberührten Postkarten. Er holte die Venus von Velazquez heraus, die üppige, sahnige, rosige

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