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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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zusammen mit Agathe durch den Park einem ungewissen Nachmittag entgegenzugehen.
    Auch Agathe hatte verstanden, und ihr brach es schier das Herz. Innerhalb einer Stunde hatte sich ihr kalter Hass auf den Anwalt Guillaume in reine Mutterliebe verwandelt. Sobald sie ihn ansah, verspürte sie das unerklärliche Verlangen, ihm zu helfen. Als der gute Bürgermeister Krovic also sagte: «Wenn wir uns beeilen, erwischen wir vielleicht noch die Tram am Haupteingang», erwiderte sie nur: «Warum gehst du nicht vor? Ich bin gleich bei dir.» Dann wandte sie sich Yemko zu.
    Tibo hätte es natürlich niemals zugegeben, aber ein bisschen gekränkt war er schon. «Ja», sagte er, «selbstverständlich. Ich werde am Tor auf dich warten.» Er schlurfte durch den engen Gang zwischen den Klappstühlen hindurch, er tanzte in der Menge wie ein Korken, und immer wieder sah er über die Schulter, wie Agathe direkt vor Yemko stand und dessen Hand hielt. Im Gehen bemerkte Tibo dicht über dem Horizont eine dünne, schwarze Wolkenlinie, die typischerweiseeinen heraufziehenden Sturm ankündigte. Ein plötzlicher Windstoß ließ die Leute den Kragen hochschlagen und über den «Winteranfang» scherzen.
    Sobald die Menge sich einmal durch die Engführung am Parktor gedrängt hatte, verlief sie sich rasch; die einen gingen nach Hause, die anderen stellten sich an die Haltestellen zu beiden Straßenseiten. Von hier aus bediente die Tram jeden Winkel von Dot, eine mehr als kleinstädtische Dienstleistung.
    Als er da so allein neben der hohen Steinsäule stand, bemerkte Tibo, dass ein Bonbonpapier an seinem Schuh klebte. Er bückte sich, um es abzuzupfen und in den Mülleimer zu werfen, der ganz in der Nähe an einem grünen Laternenmast hing. Als er sich umdrehte, war Agathe schon da. Mit behandschuhter Hand fing sie an, ihm Rücken und Schultern abzuklopfen. «Du hast dich irgendwo angelehnt», sagte sie.
    Aber Tibo wehrte sie ab. «Als Nächstes spuckst du in dein Taschentuch, um mein Gesicht abzuwischen.»
    Agathe stand vor ihm, wie sie eben noch vor Yemko gestanden hatte, nur dichter noch; ihre Mantelschöße berührten seine, sie reckte ihm ihr Kinn entgegen, schloss die Augen und lächelte milde. Sie war glücklich, sie freute sich über seinen albernen Protest, sie war selbstsicher wie eine Frau, die sich ihres Anspruchs darauf, einem Mann Staub von der Schulter zu klopfen, nur zu bewusst war.
    Ihr Körper berührte Tibos mit Bauch, Brüsten und Oberschenkeln, sie waren so nackt wie in der Hochzeitsnacht, und nichts trennte sie als ein paar Schichten warmen Wollstoffs. Der Wind zerrte an ihrem Haar. Ihr Duft stieg Tibo in die Nase. Sie wartete auf einen Kuss.
    Tibo küsste sie nicht. Er trat eine Schuhlänge zurück und fragte: «Was wollte Guillaume?»
    Agathe ließ die Schultern sinken. Sie öffnete die Augen und sagte: «Er hat mir seine Freundschaft angeboten. Er sagt, er sei mein Freund. Tibo, bist du mein Freund?»
    Der gute Bürgermeister Krovic betrachtete kurz seine Schuhe, dann den Park und die verlassene Konzertmuschel, zuletzt wieder Agathe. «Ich bringe dich zur Tram», sagte er.
    Während sie an der Haltestelle warteten, wechselten sie kein Wort. Als die Linie 36 um die Ecke bog, auf der Anzeigetafel das große «Grüne Brücke» in weißen Lettern, sagte Agathe nur: «Bis dann.» Als die Tram hielt und sie die hintere Plattform bestieg, warf sie keinen Blick zurück. Als die Tram davonzuckelte, schaute Bürgermeister Krovic die Straße rauf und runter, um festzustellen, dass er ganz allein war. Er ging los. Er hatte nichts Besseres vor. Nach kurzer Zeit fing es zu regnen an, aber er ging weiter. Nach etwa einer Stunde hatte er die Gießereigasse erreicht, von wo es nicht mehr weit war zu den Docks. Bei den Docks war es ruhig. Niemand arbeitete sonntags. Alte Zeitungen lagen wie Seesterne auf der nassen Straße. Das Kopfsteinpflaster glänzte schwarz und ölig, und Kohlenstaub verstopfte die Fugen. Neben den Toren zu den Lagerhallen lagen kleine Häufchen aus Zigarettenstummeln, hier hatten die Hafenarbeiter herumgestanden, sich unterhalten und ausgespuckt. Auf der dunklen Wasseroberfläche schimmerten Regenbogen aus Benzin. Sie kräuselte sich zu einer Orangenhaut, als die Regentropfen daraufklatschten.
    Deprimierte Möwen mit schwarzen Knopfaugen warfen Tibo Blicke zu, als er vorbeilief; manche stiegen kurz in die Luft und kreischten wie alte Maschinen. Sie hatten längst sämtliche Fischreste aus den Kisten gepickt und

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