Die Liebeslotterie
verloren? Wie hätte der arme Teufel uns sonst finden sollen?» Er senkte seine Stimme zu einem erschöpften Flüstern und sagte zu Agathe: «Frau Stopak, würden Sie freundlicherweise die Gastgeberin spielen? Danke.»
Der Taxifahrer verschwand wieder in der Menge, wobei er sich stöhnend den Rücken rieb. Agathe beugte sich über den Picknickkorb und öffnete den Deckel mit dem gleichen Gesichtsausdruck, den schon Hester Roskova gehabt hatte, als sie in der letzten Szene von «Piratenkönigin von Jamaika» die Schatztruhe öffnete.
«Randvoll!», rief sie, «alles ist da!» Dann sah sie Yemko an, der schlaff über seinem Gehstock hing wie ein Zirkuszelt während des Abbaus. «Alles in Ordnung?», fragte sie besorgt.
«Schauen Sie mal nach, ob etwas zu trinken drin ist», sagte Tibo. Er legte dem Anwalt eine Hand auf die Schulter. «Ich glaube, er hat sich übernommen. Er wird sich schnell wieder erholen.»
«Da ist Wein», sagte Agathe. Sie reichte Tibo eine dunkelgrüne Flasche und einen Korkenzieher. «Ich stelle mich damit immer so ungeschickt an.» Das war gelogen. Tibo steckte sich die Flasche zwischen die Knie, zog den Korken heraus und schenkte etwas Wein in das Glas ein, das Agathe ihm entgegenhielt. «Nehmen Sie einen Schluck», sagte er, und Yemko packte das Glas beim Stiel und trank. Seine Lippen, die vorher in einem interessanten Blau geleuchtet hatten, färbten sich lila.
«Vielen Dank», sagte er. «Ich glaube, in dem Korb sind auch glasierte Kekse. Könnte ich bitte einen bekommen?»
«Glasierten Keks!», sagte Tibo.
«Glasierten Keks», sagte Agathe und reichte den Keks so vorsichtig hinüber wie eine Krankenschwester das Skalpell bei einer besonders komplizierten Operation.
Yemko biss zögerlich ein Stückchen ab und kaute es wie ein Hase mit den Schneidezähnen. «Kinder, kümmert euch nicht um mich», sagte er. «Ich bin gleich wieder fit. Fangt an, esst alles auf. Guten Appetit.»
«Wir haben genug für eine ganze Armee», sagte Agathe.
«Haben Sie uns erwartet?», fragte Tibo. «Sie hatten doch sicher nicht vor, das alles allein zu essen.»
«Man darf, wie ich schon sagte, mein lieber Krovic, das Publikum nicht enttäuschen. Selbst wenn ich mich an einemtrockenen Keks festhielte, würden in der Kirchenallee spätestens heute Abend die wildesten Gerüchte über mich kursieren. Untadelige Buchhalter und selbst die Prediger würden schwören, mich beim Verspeisen eines ganzen Ochsen beobachtet zu haben. Also bitte, helfen Sie mir.» Mit pfeifendem Atem wandte er sich an Agathe. «Frau Stopak, ich denke, Sie werden da irgendwo eine Flasche Champagner finden. Bitte, bedienen Sie sich.»
Und das taten sie. Tibo ließ den zweiten Korken knallen, und sie tranken Champagner und aßen kaltes Hühnchen und Schinken und hauchdünn geschnittenes Roastbeef. Dazu gab es ein großes Glas eingelegter Pfirsiche und einen Topf voll mit sahniger Vanillecreme. Sie aßen und lachten, und dazwischen wandte Agathe sich immer wieder besorgt zu Yemko um.
Sie beugte sich zu Tibo. «Können wir die Plätze tauschen? Ich möchte neben ihm sitzen.»
So kam es, dass Tibo während der zweiten Hälfte des Konzertes, bis zum «Radetzkymarsch», am Gang saß, Marzipanfrüchte aus dem Picknickkorb klaubte und Agathe damit fütterte, die keine Hand mehr frei hatte, weil sie in der einen Tibos und in der anderen Yemkos hielt. Letztere tätschelte sie immer wieder wie zur Beruhigung.
Gott weiß, was der Tubaspieler sich bei diesem Anblick dachte. Aber als die Feuerwehrkapelle bei der Nationalhymne angekommen war, hatte Yemko sich vollständig von den Anstrengungen des Hutschwenkens erholt. Wie den übrigen Zuschauern gelang es ihm, sich zu erheben, aber anders als Tibo und Agathe machte er sich nicht die Mühe mitzusingen.
Tibo sagte: «Tja, das war’s für dieses Jahr. Wieder einmal ist es an der Zeit, sich auf den Winter einzustellen.»
«Das war ein nettes Picknick», sagte Agathe. «Sollen wir beim Aufräumen helfen?»
Yemko schüttelte den großen Kopf. «Das erledigt der Fahrer. Es war mir ein Vergnügen.»
«Dann werde ich Agathe zur Tram begleiten.»
«Ja», sagte Yemko. Er sagte nicht mehr, und dennoch sagte er damit alles, so, wie die Gänse, die gen Süden über den Ampersand ziehen, nicht mehr zu sagen brauchen als «Quok», um den ganzen Himmel mit Sehnsucht und Melancholie zu füllen.
Tibo hatte verstanden und beschloss, dass nun der ideale Moment gekommen wäre, um sich zu verabschieden und
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