Die Liebeslotterie
Frau vor dem scharlachroten Vorhang, die auf dem Sofa ruhte und sehnsüchtig und einladend in den Spiegel schaute. Die andere Karte legte er in die Schublade zurück, ohne sie auch nur anzusehen.
Tibo hob den Blick zum Stadtwappen, das gegenüber von seinem Schreibtisch hing, und stieß einen langen Seufzer aus, von dem er hoffte, dass ich ihn als Hilfeschrei deuten würde. Er strich sich das nasse Haar aus der Stirn, damit es nicht auf die Postkarte tropfte, trocknete sich die Handflächen an der Hose und griff zum Füller. Er schrieb: «Frau Agathe Stopak, Büro des Bürgermeisters, Rathaus, Rathausplatz, Dot», genau dort, wo die vorgedruckten Linien das «Adressfeld» markierten. Er seufzte noch einmal. So ein winziges Stückchen Pappe, kaum größer als ein halber Briefumschlag – mehr Platz blieb ihm nicht, um zu sagen, was er ihr zu sagen hatte. Was hatte er ihr zu sagen? Noch ein Seufzer. Noch ein Blick zu mir, die auf dem Schild thronte, und dann fing er zu schreiben an. «Du bist noch viel schöner. Viel kostbarer. Viel begehrenswerter. Du bist anbetungswürdiger als jede Göttin. Ja, ichBIN dein Freund.» Die Karte war voll. Tibo quetschte ein «K» in die untere Ecke und machte sich im Halbdunkel von Agathes Schreibtisch auf die Suche nach einer Briefmarke. Als er sie gefunden hatte, legte er eine Münze in die Portokasse.
Es würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen zu schildern, wie Tibo seine Jacke wieder anzog und über die dunkle Rathaustreppe strauchelte. Überspringen Sie diesen Teil einfach, und stellen Sie sich vor, wie er vor dem Doppelbriefkasten an der Weißen Brücke steht, dessen Emailleklappen mit der Aufschrift «Stadt» und «Land, Ausland» versehen sind. Tibo steckte die Karte in den «Stadt»-Schlitz und ließ sie erst im letzten Augenblick los. Er hätte immer noch Gelegenheit, sie herauszuziehen und alles zu überdenken. Es war nur eine Postkarte. Aber dennoch. Sie war ein Beweisstück. Da stand es schwarz auf weiß. Verdammt, und wenn schon! Ein Beweisstück wofür? Aber hatte er die Worte richtig gewählt? Würden sie ausreichen? Die Karte rutschte ihm aus den Fingern und landete im Innern der verschlossenen Metallkiste, und mit klopfendem Herzen und stockendem Atem wandte Tibo sich ab. «Nun ist es vollbracht», sagte er auf dem Weg durch die Schlossstraße, «nun hast du es getan.»
Das Schild auf dem Briefkasten versprach eine «letzte Leerung um Mitternacht», und die Postbehörde hielt Wort. Der Postmann kam um Mitternacht. Nicht fünf Minuten vorher, da war er noch auf der Schlossstraße unterwegs, und nicht zehn Minuten nachher, da stand er vor dem Opernhaus. Um Punkt Mitternacht.
Längst lag Tibo, durch ein heißes Bad aufgewärmt, im Bett, und sein Anzug hing zum Trocknen in der warmen Luft, die in der Küche vom Ofen aufstieg, als seine Postkarte auf einem Tisch mitten in einer riesigen Halle landete, wo AntoninGamillio (der eigentlich kein Postangestellter war, sondern ein Schriftsteller, der nachts in der Hauptpost arbeitete, um sich Papier und Tinte leisten zu können, bis sein Roman über den Alltag in der Hauptpost einer Provinzhauptstadt endlich einen Verlag gefunden hätte) einen kurzen Blick auf die Adresse warf und die Karte dann schwungvoll in den Sack mit der Aufschrift «Innenstadt» schnippte, der offen an der Wand hing. Antonin war zu Recht von seinen Schnippkünsten überzeugt. So überzeugt, dass er bereits die Adresse auf dem nächsten Brief ins Auge fasste, noch bevor Tibos Postkarte im Sack gelandet war. Für die Briefsortierer in der Hauptpost war es eine Frage der Ehre, die Flugbahn einer Sendung auf dem Weg in den Sack nicht mit Blicken verfolgen zu müssen. Was wirklich schade ist, weil vor sieben Jahren ein Brief von einem großen Verlagshaus an einen gewissen Herrn A. Gamillio den Sack mit der Aufschrift «Parkviertel» nur knapp verfehlt hatte, gegen die Wand geprallt, hinuntergerutscht und aufrecht hinter einem Tischbein stehen geblieben war, wo er bis zum heutigen Tag Staub ansammelt.
Obwohl solche Tricks in Romanen äußerst beliebt sind, um für Missverständnisse und Unglück zwischen Liebenden zu sorgen, passierte mit Tibos Postkarte glücklicherweise nichts dergleichen. Nach einer Weile wurde der Sack mit der Aufschrift «Innenstadt» von der Wand genommen und zu einer Holzwand mit zahlreichen Verteilerfächern getragen; jede Reihe trug einen anderen Straßennamen und jedes Fach eine Nummer, außer jenes in der untersten Reihe, wo
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