Die Liebeslotterie
man vier Fächer zu einem zusammengefasst und mit dem Etikett «Rathaus» versehen hatte. Kurz vor drei landete Tibos Postkarte in diesem Fach und wurde mit Hilfe eines Gummibandes zwischen einen Beschwerdebrief über das aufgeplatzte Straßenpflasteram Kommerzplatz und einen braunen Umschlag mit einem Scheck für das Amt für Schanklizenzen geklemmt. Man stelle sich das vor – eine nackte Göttin, eingezwängt zwischen so einem Zeug! Aber so reiste sie nun einmal – nicht von Wellen geschaukelt oder von Amor getragen, sondern durch ein Gummiband gefesselt, in einen Sack geworfen und am Morgen um halb neun im Postraum des Rathauses abgeladen. Als Agathe vierzig Minuten später zur Arbeit erschien – eigentlich kam sie nur zu spät, weil ihr kein Grund eingefallen war, sich zu beeilen –, lag die Karte auf ihrem Schreibtisch.
Sehen Sie sie an! Sie pflügt sich mit dem Brieföffner durch die Tagespost, und dann stößt sie auf die Postkarte. Wie seltsam, denkt sie, wie seltsam, wie merkwürdig, wie ungewöhnlich. Sie nimmt die Karte. Sie dreht sie um. Sie liest: «viel schöner», «viel kostbarer», «viel begehrenswerter», «anbetungswürdiger», und sie liest: «K». Wer ist K? Da steht: «Ich bin dein Freund.» Nein, nein, da steht: «Ich BIN dein Freund.» Können Sie es sehen? Es ist die Antwort auf eine Frage, und K steht für Krovic. Tibo ist K.
Sehen Sie sie an. Wie sie lächelt! Ein Stückchen Pappe und ein paar Worte, mehr hat es nicht gebraucht. Und wie sie die Karte jetzt umdreht, wie sie die nackte Göttin betrachtet und denkt: «Noch schöner? Bin ich noch schöner? Noch begehrenswerter?»
Natürlich! Natürlich, denn die Frau auf dem Bild besteht nur aus Farbklecksen auf dem Papier, Agathe Stopak hingegen ist echt. Die Frau auf dem Bild wurde vor Jahrhunderten in Madrid in ein Hurengrab geschaufelt, aber Agathe Stopak ist noch da, Blut in den Adern und Luft in der Lunge. Sehen Sie sie an. Sehen Sie, wie sie in Tibos leeres Arbeitszimmer eilt, vor dem Stadtwappen stehen bleibt und die Karte in dieHöhe hält, als wollte sie sagen: «Schau mal, was ich heute in der Schule gemacht habe!» Sie macht einen anmutigen Knicks und sagt lächelnd: «Danke», denn sie ist ein höfliches und wohlerzogenes Mädchen.
Dann sucht sie in ihrer Schublade nach einer Heftzwecke, um die Karte über ihrem Schreibtisch an die Wand zu pinnen. Sie sitzt da und betrachtet die Postkarte, und sie tat es immer noch, als Bürgermeister Krovic hereinkam und dabei aussah wie ein Mann, der sich in größten Schwierigkeiten wähnt.
Aber Agathe zwinkerte ihm lächelnd zu und tippte mit einem gefeilten, lackierten Fingernagel auf eine Ecke der Postkarte, nicht so sehr, um sie anzudrücken, sondern, um die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken.
«Guten Morgen», sagte Tibo. Seine Stimme zitterte. «Mittagessen? Später, meine ich. Würdest du mit mir Mittagessen gehen? Später? Mit mir?»
«Das wäre wunderbar, Herr Bürgermeister.»
«Gut», sagte Tibo. «Gut. Hör mal, ich muss jetzt zu einem Termin. Wäre es für dich in Ordnung, wenn wir uns dort treffen, im Goldenen Engel? Gegen eins?»
«Das wäre wunderbar», antwortete Agathe.
«Gut. Und es tut mir leid wegen dieser Sache. Gestern. Das mit dem Freund.»
«Ich weiß», sagte sie. «Schon vergessen.» Und noch einmal rückte sie die Postkarte mit der Fingerspitze zurecht.
Agathe saß bereits am Fenstertisch im Goldenen Engel, als Tibo um kurz nach eins durch die Schlossstraße hastete. Er sah sie durch die Glasscheibe lächeln und drängelte sich durch die mittäglichen Gäste, um zu ihr zu kommen.
Agathe nahm ihre Handtasche wieder an sich, die den Platzgegenüber verteidigt hatte. «Ich habe für dich bestellt», sagte sie. «Ich werde auf meine alten Tage mutig.»
«Gut», sagte Tibo. «Was gibt’s?»
«Was immer Mamma Cesare heute für gut befindet.»
Sie lachten, und Tibo sagte: «Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht.» Er legte das braune Päckchen auf den Tisch und schob es Agathe hinüber. «Es ist ein Buch.»
Agathe warf ihm einen Blick zu, der sagte: «Das hatte ich mir fast gedacht», dann griff sie zu.
Da war etwas an Agathe Stopak, an ihrer Art, das die Aufmerksamkeit aller auf sie zog. Es lag keinerlei Absicht darin, ganz im Gegenteil, sie war sich dessen nicht einmal bewusst. Genau in diesem Moment war sie wieder irgendwie perfekt, sie hob das Päckchen an ihre Lippen, als wolle sie es küssen, dann biss sie in die Schnur und zerrte es auf. Sie
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