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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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dachten: Heute wird es passieren.
    Wenn sie später über den kalten Rathausplatz in das leere Büro zurückeilten, dachten sie: Jetzt wird es passieren.
    Wenn Agathe allein an der Spüle stand und die Töpfe auswusch, sagte sie sich: «Morgen wird es passieren.»
    Und Tibo, der in seiner Küche stand und Agathes abgespülte Auflaufform in ein Geschirrtuch wickelte, um sie ihr am nächsten Morgen zurückzugeben, flüsterte: «Ich weiß, dass es morgen passieren wird.»
    Während der langen Wochenenden, wenn es kein Mittagessen im Goldenen Engel gab und er oder sie unnötig lange auf dem Fischmarkt verweilte oder endlos die Auslagen des Kaufhaus Braun studierte oder ziellos im Kopernikuspark umherlief, weil man sich ja, Sie verstehen schon, ganz zufällig über den Weg laufen könnte – während all dieser Zeit sagten sie sich immer wieder: «Es wird passieren.»
    Wenn Tibo ihr glasweise Oliven anschleppte – die sie übrigens nicht mochte   –, wusste Agathe: «Es wird passieren.»
    Wenn Agathe zur Arbeit kam und nach der besonderenSeife duftete, die Tibo ihr gekauft hatte, dann wusste Tibo: «Es wird passieren.»
    Und wenn Tibo in seinem leeren Haus saß und der Herbststurm die Glocke am Ende des Gartenpfads läutete und wenn Agathe allein in ihrem kalten Bett lag und sich berührte und sich vorstellte, es wären die Hände eines anderen, dann sagten sich beide: «Es wird passieren. Jetzt.»
    Aber keiner von beiden, nicht der gute Bürgermeister Krovic und nicht Frau Agathe Stopak, sagte jemals: «Heute werde ich es tun!» Nicht Ende September, nicht im Oktober und nicht im November, als im Kaufhaus Braun umdekoriert wurde und die mechanischen Vögel zum Zwitschern in den geradezu legendären Weihnachtsbaum gesetzt wurden, und es war im Dezember, als Agathe endgültig die Geduld verlor.
    Vermutlich hatte es mit der Jahreszeit zu tun. Es war kalt, und Agathe hasste die Kälte, sie hasste es, in Galoschen zur Arbeit zu poltern statt in den hübschen Schuhen, die sie so gern trug – Schuhe, in denen man Bein zeigen konnte. Außerdem kündigte der Dezember natürlich das Jahresende an. Das regte Agathe auf. Dann würde sie ein weiteres Jahr mit Stopak verbracht haben, ein weiteres Jahr mit Achilles als einzigem Bettgenossen, ein weiteres Jahr ohne Baby und ohne Liebe.
    Beim Aufwachen in der Aleksanderstraße hatte sie ein winziges, verkohltes Stückchen Verbitterung in ihrem Herzen entdeckt; es glühte noch, und sie blies darauf, während sie mit der Tram in die Stadt fuhr. Noch bevor sie die Haltestelle in der Schlossstraße erreicht hatte, gab sie ein paar Späne von «Was ist los mit ihm?» und ein gründlich durchgetrocknetes «Liegt es an mir?» dazu und fachte das Häuflein mit einem Hauch von «Ist er blind?» an. Kurz bevor siedie grüne Marmortreppe des Rathauses erreicht hatte, fing das Ganze Feuer, und als sie an ihrem Schreibtisch ankam, brannte es lichterloh.
    Agathe setzte sich, streifte die Galoschen ab und schleuderte sie in die Zimmerecke, wo sie aufrecht und mit nach innen gerichteten Zehen stehen blieben wie ein abgestraftes Schulkind. Als Tibo hereinkam und ihr wie an jedem Tag fröhlich einen «guten Morgen» wünschte, erwiderte sie nichts. Tibo war schon fast in seinem Arbeitszimmer angekommen, als er es bemerkte. Er hielt in der Tür inne, beugte sich zurück und fragte: «Alles in Ordnung mit dir?»
    «Ja», sagte sie eisig.
    Tibo kam zurück und stellte sich neben ihren Schreibtisch. «Sicher?»
    «Alles ist in wunderbarer Ordnung. Was sollte nicht in Ordnung sein? Mir geht es gut.»
    «Schön», sagte Tibo, ging in sein Arbeitszimmer und setzte sich hinter seinen Schreibtisch.
    Einige Minuten später kam Agathe herein. Sie ließ einen Stapel Briefe auf Tibos Schreibtischunterlage fallen und streckte ihm mit der anderen Hand eine Porzellanschüssel entgegen. «Fischpastete», sagte sie.
    Tibo nahm die Schüssel lächelnd entgegen. «Vielen Dank. Agathe, du bist zu gut zu mir.»
    «Das stimmt», sagte Agathe. «Gehen wir heute Mittag essen?»
    «Selbstverständlich.»
    «Selbstverständlich. Warum selbstverständlich? Hattest du mich fragen wollen?» Sie stampfte aus dem Büro.
    Tibo erhob sich seufzend und ging ihr nach.
    Agathe hatte sich bereits wieder hingesetzt und war dabei,einen Papierstapel gerade auszurichten, indem sie ihn wütend auf die Tischplatte stauchte.
    «Es tut mir leid», sagte Tibo, «du hast völlig recht. Es steht mir nicht zu, dich als selbstverständlich zu

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