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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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eingebracht. Aber Tibo rettete sie nicht. Tibo Krovic war Bürgermeister von Dot, und noch nie hatte der Bürgermeister von Dot die Frau eines anderen Mannes durch die Straßen getragen, selbst nicht, wenn es sich bei ihr um seine Sekretärin handelte, selbst nicht, wenn sie ihn liebte, nicht einmal, wenn sie ihn liebte, seit sie denken konnte.
    Der Augenblick verstrich. Agathe sah ihn von jenem winzigen Punkt abrücken, an dem aus dem «Wann» ein «Jetzt» wird, und stattdessen schwebte er ins «Dann» zurück. Es dauerte nur eine Sekunde.
    Verlegen nahm Tibo das Büchlein, in dem Agathes Phantasiehaus steckte, und blätterte darin herum. «Wie findest du das?», fragte er und zeigte auf das Bild einer riesigen Badewanne.
    «Lebendig», sagte Agathe.
    «Lebendig? Das ist eine Badewanne.»
    «Ich finde sie lebendig», sagte Agathe und sah Tibo direkt in die Augen.
    Und dann wiederholte sie das Wort, so leise, dass es kaum zu hören war: «Lebendig, lebendig, lebendig.»
    Der gute Tibo Krovic war verwirrt. Er fragte sich, ob Agathe vielleicht in ebendiesem Moment einen Nervenzusammenbruch erlitt?
    «Ist alles in Ordnung?», fragte er.
    «Mir geht es gut, Tibo.» Sie tauchte den Löffel in die Suppe, hielt ihn dann aber auf Abstand, so als fürchte sie, zu kleckern. Ihre Hand zitterte. Ihr ganzer Körper zitterte. Tibo dachte, sie würde jeden Augenblick laut loslachen. Aber in Wahrheit war Agathe kurz davor, in Schluchzen auszubrechen.
    «Wie ist deine Suppe?», fragte er überflüssigerweise.
    «Hmm. Minestrone.» Agathes Stimme hatte einen sarkastischenUnterton. «Weißt du, die Minestrone ist von allen Suppen die schönste. Ihre Farben sind so   …» Da war ein Flehen in ihren Augen, und in Gedanken wiederholte sie immer wieder: «Um Gottes willen, Tibo, sieh mich an. Sieh mich an. Erkenne mich!»
    «Lebendig?», schlug Tibo vor.
    «Genau, Tibo, lebendig.» Wieder bewegte sie stumm die Lippen. «Le-ben-dig. Le-ben-dig. Ich frage mich, warum diese Suppe nicht in Dot erfunden wurde. Warum muss sie aus Italien kommen, wo es ohnehin schon so warm und hell ist und die Leute so   …» – sie schaute ihm direkt ins Gesicht und wiederholte das Wort –: «le-ben-dig.»
    Tibo wollte nur ungern eingestehen, dass er dieses Spiel nicht verstand. Er konzentrierte sich auf seine Suppe. «Wir haben Borschtsch», sagte er. «Das ist auch eine gute Suppe. So gut wie jede italienische.»
    «Borschtsch schmeckt nach kalter Erde. Nach Grab. Borschtsch ist das Gegenteil von   …» – sie hielt lange genug inne, um Tibos Blick auf sich zu ziehen   –, «le-ben-dig.»
    «Lebendig?»
    «Le-ben-dig», wiederholte sie leise.
    «Ich verstehe nicht, was in dich gefahren ist.»
    «Nein, Tibo, das ist ja das Schlimme.»
    Noch einmal sagte sie leise: «Le-ben-dig», während ihre Augen sich mit Tränen füllten, dann warf sie die Serviette hin, packte ihre Handtasche und lief aus dem Restaurant.
    Tibo hatte genug verregnete Nachmittage im Palazz Kinema in der Georgenstraße verbracht, um zu wissen, dass er Gefahr lief, als Klischee zu enden – egal, ob er ihr nachrief, auf die Straße rannte oder mit ungerührtem Gesicht sitzen blieb und seine Suppe aß. Während der Sekunden, in denener sich noch fragte, welche Art der Demütigung vorzuziehen sei, sah er Agathe am Fenster vorbeilaufen und verschwinden.
    Tibo beschloss, seine Suppe zu essen. Unter den Blicken des unbarmherzigen Kellners schien es eine Ewigkeit zu dauern. Er bestellte keinen Nachtisch. Als die Rechnung kam, begrub er sie unter einem Häuflein aus Geldscheinen und Münzen, mehr als nötig, und ging schnell hinaus.
    Es war kalt. Die ersten Schneeschauer wirbelten durch die Schlossstraße und über die Weiße Brücke. Sie verfolgten Tibo bis auf den Rathausplatz, wo Arbeiter dabei waren, die Brunnen winterfest zu machen. Tibo schnürte den Gürtel seines dicken Mantels fest um seinen Leib, zog sich den Hut tief ins Gesicht und schaute zum anderen Ufer hinüber, wo sich die Kuppel der Kathedrale in einer grauen, bedrohlichen Wolkenfaust versteckte. Obwohl es nicht einmal zwei war, brannten im Rathaus schon die meisten Lichter. Tibo ging hinein und stieg die Treppe zum Büro hinauf. Agathe war nicht an ihrem Platz. Die Uhr tickte. Der Wind schleuderte gefrorene Nägel an die Fensterscheibe. Dunkelheit zog auf. Tibo ließ die Zwischentür offen stehen, aber Agathe kam nicht zurück, und um sechs räumte der gute Bürgermeister Krovic seinen Schreibtisch auf, schloss die

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