Die Liebesluege
sehen, was meine Mutter noch alles vergessen hat.«
Die Bitterkeit in Elenas Stimme erschreckte Charly. Mit Mühe verbiss sie sich die Frage nach dem Warum; neugierig wie Swetlana und Valerie wäre sie sich vorgekommen, und das wollte sie nicht. Stattdessen summte sie leise eine Tonfolge ohne erkennbare Melodie vor sich hin; das Summen hielt sie davon ab, Elena voller Mitgefühl in den Arm zu nehmen. Sie muss etwas Schlimmes erlebt haben, dachte sie und ahnte, dass Mitgefühl das Letzte war, was Elena im Augenblick ertragen konnte. Charly wusste, dass Mitgefühl den Schmerz eines schrecklichen Erlebnisses nicht linderte, und wenn man von einer mitleidigen Seele umarmt wurde, brachte das den Schmerz schon gar nicht zum Verschwinden.
Charly summte also Töne, während sie das Schrankpapier zuschnitt und auslegte. Sie hätte sich eigentlich eine weniger komplizierte Zimmergenossin gewünscht, aber merkwürdig, Elena faszinierte sie. Sie war scheu, schüchtern und verschlossen, nicht hässlich, aber auch nicht hübsch, obwohl … Charly musterte sie verstohlen. Wenn sie einen anderen Haarschnitt hätte und vorteilhaftere Kleidung tragen, wenn sie nicht so enttäuscht, so missmutig und verdrossen aussehen würde?
»Hast du Heimweh?«, platzte sie nun doch heraus.
Zum ersten Mal reagierte Elena spontan. »Heimweh? Das ist ja wohl das Unwahrscheinlichste der Welt! Im Gegenteil! Ich bin …« Sie biss sich auf die Unterlippe.
Charly rätselte, was Elena hatte sagen wollen: »…froh, meine Eltern los zu sein.«? Oder:»… noch niemals heimwehkrank gewesen.«?
Als die Koffer und Taschen leer, die Schränke gefüllt, die Hefte und Schulsachen in den Schreibtischen verstaut, die Laptops eingestöpselt waren und die Bücher im Regal standen,
bezog Charly ihr Bett mit ihrer neuen Laura-Ashley-Bettwäsche. Sie wählte die mit dem hübschen Maiglöckchenmuster, das Spannbetttuch war weiß mit grünen Blättchen, und dazu passten auch die gelb, weiß und hellgrün gemusterte Tagesdecke sowie die drei Kuschelkissen.
Schließlich stellte Charly ihre leeren Koffer und Taschen auf den Flur und zog den Reißverschluss der selbst genähten Tasche auf, in die sie verstaut hatte, was sie an die Zeit erinnerte, in der sie unbeschwert glücklich gewesen war: Das Kästchen für ihre Armreifen und Ohrringe sowie den Wecker stellte sie auf den Nachttisch. Den Bär aus ihren Kleinkindertagen, ohne den sie niemals verreiste, setzte sie zwischen die Rüschenkissen, und das Foto im silbernen Rahmen stellte sie auf ihren Schreibtisch.
Gerade breitete Elena ihre Tagesdecke in einem scheußlich gelbstichigen Beige über das weißbezogene Bett, dann beförderte auch sie die leeren Gepäckstücke auf den Flur. Als sie das Foto mit der lachenden Charly zwischen Vater und Mutter sah, wandte sie sich abrupt ab. Charly war Elenas Blick gefolgt; jetzt wusste sie mit absoluter Sicherheit, dass es in Elenas Leben ein Geheimnis gab, über das sie nicht sprechen wollte. Statt nachzubohren, hielt Charly Elenas trotzigem, wütendem Frag-mich-bloß-nichts- Blick stand, sie sagte nicht, ich will dir doch gerne helfen, und über sich sagte sie schon gar nichts. Erleichtert, ja sogar dankbar lächelte Elena sie schließlich schüchtern an.
Charly hob die Schultern etwas hoch und blinzelte. »Hörst du? Die anderen kommen.«
Kapitel 4
Seite an Seite am Fenster stehend beobachteten Elena und Charly, wie ein Auto nach dem anderen die Auffahrt heraufglitt, wie Türen geöffnet, Kinder, Geschwister, Mütter und Väter ausstiegen, wie das Gepäck, die Skier, Skateboards, Tennis- und Golfschläger herausgehoben und auf den Kies gestellt wurden, wie sich Jungen und Mädchen umarmten und Wiedersehensschreie ausstießen, und wie Professor Mori mit freundlicher Gelassenheit die Ankommenden begrüßte.
»So, jetzt werden wir mal Swetty und Val besuchen.« Charly griff nach Elenas Hand. »Dritte Tür links, stimmt’s?« Sie klopfte laut und rief: »Wir sind’s!«
Da niemand antwortete, lugte sie ins Zimmer.
»Wow! Das musst du sehen, Elena!«
Elena spähte über Charlys Schulter.
Der weiße Mantel lag auf dem einen, die rote Jacke auf dem anderen Bett. Auf dem Fußboden verstreut waren Bücher und Modezeitschriften, Unterwäsche, Strumpfhosen, Pullis, Röcke und Hosen, und auf einem kleinen Sessel lag eine todschicke weiße Reithose samt Kappe und gesteppter Weste in Schwarz. Auf den Schreibtischen standen und lagen Puderdosen, Spiegel, Kämme und Haarklammern,
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