Die Liebesluege
nicht sofort die Bahn frei machte, fuhr er so lange Schlangenlinien, bis der Fahrer rechts einscherte. Auf der Höhe von Karlsruhe öffnete er zum ersten Mal den Mund.
»Ich hoffe, du weißt unsere Großzügigkeit zu schätzen. Dein Internat kostet mich monatlich eine schöne Stange Geld.«
O Gott! Elena krampfte die Hände ineinander und nickte schließlich.
»Was hast du gesagt? Ich hab nichts gehört!«
»Danke«, flüsterte Elena.
»Lauter; meine Ohren sind nicht mehr so gut wie früher.«
»Danke.«
»Wie bitte?«
»Danke!«, stieß Elena hervor. »Danke, danke, danke!«
»Na bitte! Geht doch!«
Zwischen Basel und Sissach fing der Regen an; zuerst fielen einzelne große Tropfen, aber urplötzlich goss es wie aus Kübeln. Die Fahrbahn war nur noch zu erahnen, selbst ihr Vater nahm den Fuß vom Gas, und bald staute sich der Verkehr. »Das bisschen Regen«, knurrte er. »Kostet mich Minuten.«
Mich - nicht uns , dachte Elena und biss sich auf den Zeigefingerknöchel.
Kurz nach Bern ging der Regen in Schnee über. Die Flocken prallten waagrecht gegen die Windschutzscheibe, die Bäume links und rechts waren zu dunklen Schemen geworden, der Schnee hatte den Himmel verschluckt, die Welt bestand nur noch aus dichtem Grau. Trotzdem brauste ihr Vater statt mit der auf Schweizer Autobahnen vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit von 120 Stundenkilometer mit mindestens 135 durchs Land. Hätte ihm jemand gesagt, er möge doch langsamer fahren, hätte er nur geknurrt: »Wo ist das Problem? Es gibt keines!«.
Die groben Hände ihres Vaters ruhten schwer auf dem Lenkrad, sein Stiernacken warf Falten, die grauen Stoppelhaare standen ab, und im Spiegel sah Elena sein breites rotes Gesicht mit der zu kleinen Nase und dem aggressiven Kinn. Er schielte etwas; ein Erbe der Großmutter, das, wie auch die vorstehenden Schneidezähne, an Elena weitergegeben worden war, allerdings bemerkte man bei ihr das Schielen nur, wenn sie sehr müde war. Sie trug eine Brille und zur Regulierung der Zähne nachts eine Klammer.
Ihr Vater legte keine Pause ein, an keiner Raststätte hielt er an, nie sagte er »Lass uns einen letzten Kaffee trinken« oder »Hast du Durst? Willst du etwas essen?« oder »Musst du auf die Toilette?« Als Elena kurz vor dem Ziel, in der Nähe von Fribourg, tatsächlich auf Klo musste, knurrte er etwas von »Extrawünschen«.
Nach Bulle ließ der Schneefall nach, und als sie über die tief verschneite Hochebene fuhren, sah Elena ein Schild, das auf die Wasserscheide von Rhein und Rhône aufmerksam machte.
Kurz danach führte die Straße leicht abwärts, der Schnee ging in Regen über, und dann, als nach einer Kuppe die
Fahrbahn steil bergab ging, sah sie zum ersten Mal den Genfer See und dahinter die weißen Berge.
Die Schönheit der Landschaft nahm sie kaum wahr. Ihr Vater dünstete Wut aus, die das Wageninnere füllte und machte, dass Elena sich immer mehr verkrampfte. Ihr Magen war ein einziger kalter Klumpen, ihre Hände waren feucht und klamm, ihre Glieder starr. Mit wachsender Verzweiflung sehnte sie das Ende der Fahrt herbei - und gleichzeitig fürchtete sie sich davor.
Ihr Vater beließ den Tempomat bei 135 Stundenkilometern, obwohl ein Hinweisschild das Gefälle der Fahrbahn anzeigte und den Fahrern empfahl, die Motorbremse zu benutzen. Die Stimme aus dem Navigationsgerät riet kurz vor Montreux, die Autobahn zu verlassen und der Straße in Richtung Glion zu folgen.
Elena zuckte zusammen. O Gott! Gleich waren sie am Ziel … Sie hasste Glion! Sie hasste den Genfer See, sie hasste, hasste, hasste alles! Ihr Leben war ein Schrotthaufen, sie hasste ihren Schrotthaufen …
Elena kniff die Augen zusammen, riss sie aber erschrocken auf, als ihr Vater so plötzlich abbremste, dass ihr der Gurt in die Brust schnitt.
» Bitte wenden! Bitte wenden Sie jetzt !«, warnte die Stimme aus dem Navigationsgerät. Obwohl ihr Vater so gut wie nie das tat, was eine andere Person ihm empfahl, folgte er jetzt der Stimme, wendete und bog in eine schmale Straße ein, die sich in engen Kehren steil den Hang hinaufzog.
Plötzlich war die Jahreszeit zurückgesprungen, jetzt war wieder Winter, der Schnee türmte sich zu mehr als einen halben Meter hohen Wällen, erst vor Kurzem musste der Pflug ihn zur Seite gefräst haben, denn die Kanten waren noch scharf und deutlich sichtbar.
Im Ort verzweigte sich die Straße; nur zögernd folgte ihr Vater der steilen, engen und stellenweise sogar vereisten Route, da er ums
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