Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
anderen, aber er rief immer weiter den Sang herbei. Er würde die Flammen so rein wie möglich machen, damit die Toten des Kapitelhauses ohne den Makel von Rauch und Asche gen Himmel getragen wurden.
Und endlich ließ er seinen Tränen freien Lauf.
Eingehüllt in ihren Mantel, sah Tanith aus der Ferne zu. Seit jenem Tag hatte sie den Leahner nicht mehr gesehen. Er hatte weder ihr noch sonst jemandem die Tür geöffnet, und sie hatte ihn nicht in seiner Trauer bedrängen wollen, egal wie viel Heilung er noch brauchte. Es schien ihm wieder gut zu gehen; er steckte in sauberer Kleidung und hatte die Haare ordentlich gekämmt, aber seine Augen verrieten ihn. Sie waren grau wie Feuerstein, und sein Blick war so fern wie das Nordmeer. Er beherrschte den Sang so sicher wie immer, aber sie hatte keine Ahnung, wie es ihm gelungen war, sich gegen den Schaden abzuschirmen, den Savin in seinem Kopf angerichtet hatte. Sie hatte ihn mit eigenen Augen gesehen, und bereits die Erinnerung reichte aus, um ihr eine Gänsehaut zu verursachen. Sie fürchtete, eines Tages würde Gair unter der Anspannung zerbrechen.
Wenn sie Aysha rechtzeitig erreicht hätte, wäre es ihr möglich gewesen, sie zu retten, und auf diese Weise hätte sie Gair die Schmerzen erspart. Aber die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen, und was geschehen war, war geschehen. Sie rieb sich über die frische Narbe, die an ihrem Unterarm entlang verlief. Sie würde sie für immer behalten, egal wie oft sie behandelt wurde. Das war die Erinnerung an ihr Versagen. Sie hätte sich mehr anstrengen müssen. Sie hätte sich vor die Dämonen gestellt und sich von ihnen fressen lassen, wenn sie damit die Wunde hätte verhindern können, die Gair nun in seinem Herzen trug.
Tanith schloss die Augen, damit das Prickeln in ihnen nicht zu Tränen wurde.
»Ein seltsames Ritual«, sagte K’shaa neben ihr. »Wir übergeben unsere Toten dem Meer, nicht dem Feuer.«
Sie öffnete die Augen wieder und zitierte das Totenzeremoniell der Meerelfen mit einer Stimme, die nur ein wenig zitterte.
»›Wir sind geboren vom Wasser, und zum Wasser kehren wir zurück. Möge unser Meeresbruder vom Wasser genommen und nach Hause zur Mutter getragen werden, bis die Flut ihn einst zu uns zurückbringt.‹«
K’shaa neigte den Kopf; seine langen Zöpfe wehten im Wind. »Gut gesprochen. Sag mir, macht ihr das immer so?« Er zeigte mit dem Finger auf die blauen Flammen, die himmelwärts züngelten.
»Nein, das habe ich noch nie zuvor gesehen. Ich glaube, das ist etwas Neues.«
»In letzter Zeit habe ich viel Neues gesehen«, sagte der Meerelf. In seiner Stimme schwangen Bedauern und eine gewisse Missbilligung mit. »Vieles verändert sich.«
Tanith steckte die Arme tiefer in ihren Mantel, denn plötzlich war ihr kalt.
»Liest dein Volk die Zukunft, K’shaa?«, fragte sie. »Seht ihr Zeichen und Vorboten am Himmel, und hört ihr Gerüchte im Wind?«
Er legte den Kopf schräg und betrachtete sie nachdenklich. »Ich höre Stürme heraufziehen«, sagte er. »Ich rieche den Blitz im Bauch der Wolke, und ich lese in den Wellen. Das sind die einzigen Vorzeichen, die ich kenne.«
Sie beobachtete Gair, der im Licht der Scheiterhaufen stand. Nun hatte er die Augen geschlossen, und Tränen schimmerten silbern auf seinem Gesicht. So viel Schmerz – wie kann er das bloß ertragen?
»Ich höre die Stürme ebenfalls«, erwiderte sie. »Ich fürchte, der kommende könnte für uns alle das Ende bedeuten.«
Epilog
Eins . Weißes Licht bewegte sich über die Schwertklinge, als Gair auf dem Absatz herumwirbelte. Zwei . Stahl auf Stahl, Funken stoben zu Boden. Tritt in den freien Raum, rolle mit den Handgelenken . Weitere Funken. Drei. Verlagere das Gewicht, lenke den Hieb ab . Sorchal tänzelte um wenige Zoll zurück. Wieder umdrehen. Pack den Griff mit beiden Händen, damit du Arlins Schlag parieren kannst . Die Griffe prallten gegeneinander, und die beiden Klingen rahmten das Gesicht des Tylaners ein. Gair schwang den Arm und schlug Arlins Schwert beiseite. Umdrehen . Sein Schwert fuhr herab, und Sorchals Angriff kam zum Erliegen. Gair machte zwei schnelle Schritte und stellte sich wieder Arlin entgegen. Voran. Nicht so schluderig .
Er traf den Tylaner mit der Schulter, hielt seinen Arm gefangen und drehte ihm das Schwert aus der Hand. Es fiel in den Staub. Und fertig .
Arlin blickte finster drein und schob ihn beiseite. Gair packte ihn am Handgelenk, schleuderte den Tylaner über seine Schulter und
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