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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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wir sie ja auch benachrichtigen. Ist sie allein?« – »Der Abbé de Quélus ist bei ihr.« – »Also gut«, sagte sie, indem sie aufstand, um zu klingeln, »Sie essen bei uns!«
    Diesmal hielt Monsieur de Chessel sie für aufrichtig und warf mir einen beifälligen Blick zu. Sobald ich die Gewißheit hatte, daß ich einen ganzen Abend unter diesem Dache zubringen würde, glaubte ich, eine Ewigkeit vor mir zu haben. Für viele Unglückliche entbehrt das ,Wort »morgen« jeglichen Sinnes, und ich gehörte damals zu denen, die zum Morgen keinerlei Zutrauen haben. Wenn ich einige Stunden für mich hatte, so drängte ich eine Welt von Wonnen in ihnen zusammen ... Madame de Mortsauf schnitt eine Unterhaltung über das Land, über die Ernten, über die Reben an. Ich verstand von alledem gar nichts. Bei einer Gastgeberin zeugt ein derartiges Verhalten von Mangel an Lebensart oder von ihrer Geringschätzung für den, den sie von der Unterhaltung ausschließt. Aber bei der Comtesse war es Verlegenheit. Ich glaubte, daß sie es darauf abgesehen hatte, mich als Kind zu behandeln. Ich beneidete den Vorzug erwachsener Männer, die, wie Monsieur de Chessel, ihre Nachbarin von ernsten Dingen, die mir verborgen waren, unterhalten konnten; ich ärgerte mich, weil alles nur ihm zugute kam; aber wenige Monate später erfuhr ich, wie vielsagend das Schweigen einer Frau ist und wie viele Gedanken sie unter einer oberflächlichen Unterhaltung verbergen kann. Zuerst versuchte ich mir's auf meinem Sessel gemütlich zu machen; dann erkannte ich die Vorzüge meiner Lage und gab mich dem Zauber ihrer Stimme hin. Wie Flötentöne schmelzend sich aneinanderbinden, so wob ein seelenweicher Hauch durch ihre Silben, er brandete sanft ans Ohr und beschwingte den Rhythmus des Blutes. Ihre Art, die Endungen auf i auszusprechen, gemahnte an Vogelgesang; das ch, wie sie es sprach, kam einer Liebkosung gleich; ihre Aussprache des t ließ auf ein tyrannisches Herz schließen. Ohne es zu wissen, verlieh sie den Worten eine höhere Bedeutung und riß die Seele mit sich in eine übersinnliche Welt. Wie oft ließ ich sie eine Diskussion weiterführen, die ich leicht hätte beschließen können! Wie oft ließ ich mich zu Unrecht von ihr tadeln, nur um diese Konzerte menschlicher Sprachlaute zu hören, um von ihren Lippen die Luft zu atmen, auf der ihre Seele sich wiegte, um das lichtgewordene Wort zu fassen mit derselben Inbrunst, mit der ich die Comtesse selbst ans Herz gedrückt hätte! Welch fröhliches Schwalbengezwitscher, wenn sie lachte! Aber wie glich ihre Stimme der des Schwans, der seine Gefährten ruft, wenn sie von ihrem Kummer sprach. Die geringe Beachtung, die ich erfuhr, ermöglichte es mir, die Comtesse genauer zu beobachten. Mein Blick labte sich, wenn er an der schönen Sprecherin herabglitt; er umfaßte ihre Taille, küßte ihr die Füße und spielte in ihren Locken. Zugleich war ich das Opfer einer Herzensangst, die jeder verstehen wird, der in seinem Leben die unbegrenzten Wonnen einer aufrichtigen Leidenschaft gekannt hat. Ich fürchtete, sie möchte mich dabei ertappen, wie mein Blick sich an ihre Schultern heftete, wo ich sie so heiß geküßt hatte. Diese Befürchtung verdoppelte noch die Macht der Versuchung, ich erlag ihr, ich sah nichts anderes mehr. Mein Blick zerriß den Stoff, ich fand das Mal, das den Anfang der Nackenfurche bezeichnet, eine Fliege in lauter Milch. Dies Mal brannte seit dem Ballabend immer vor meinen Blicken, in jenem Dunkel, in dem der Schlaf der jungen Leute wie Wasser rinnt, deren Phantasie heiß und deren Leben keusch ist.
    Ich kann wohl die Hauptzüge andeuten, die überall bewundernde Aufmerksamkeit auf die Comtesse gelenkt hätten, aber die genaueste Zeichnung, die wärmsten Farben wären ihrer Schönheit nicht gerecht geworden. Um ein durchaus ähnliches Bild von ihr zu schaffen, hätte es des unmöglichen Künstlers bedurft, dessen Hand den Widerschein innerer Glut und jenen schwebenden Glanz zu malen wüßte, den die Kunst nicht kennt, den Worte nicht aussprechen können, den nur das Auge des Liebenden sieht. Ihr feines aschblondes Haar verursachte ihr oft Schmerzen, die wahrscheinlich von einem plötzlichen Blutandrang zum Kopfe herrührten. Die wohlgeformte Stirn war gewölbt wie die der Mona Lisa und schien Welten unausgesprochener Gedanken und verhaltener Gefühle zu verbergen wie Blüten, die unter bitteren Fluten begraben sind. Ihre grünlichen, mit Goldpunkten übersäten Augen schienen immer

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