Die Lilie im Tal (German Edition)
langgestreckten Flur.
»Treten Sie bitte näher, Messieurs!« sagte eine Stimme, die wie Gold klang.
Obwohl Madame de Mortsauf auf dem Ball nur ein einziges Wort gesprochen hatte, erkannte ich ihre Stimme; sie durchdrang mich und erfüllte mich ganz, wie der Sonnenstrahl die Kerkerzelle des Gefangenen mit goldenem Licht erfüllt. Bei dem Gedanken, daß sie sich meiner Züge erinnern könnte, wäre ich am liebsten geflohen ... Es war zu spät, sie erschien auf der Türschwelle, unsere Blicke begegneten einander. Ich weiß nicht, wer von uns beiden am tiefsten errötete. Sie war zu sehr verwirrt, um auch nur ein Wort hervorbringen zu können. Der Diener schob zwei Sessel heran, und sie setzte sich wieder an ihren Stickrahmen. Sie zog, um einen Vorwand für ihr Schweigen zu haben, die Nadel sehr langsam, zählte einige Stiche, wandte dann ihr mildes, stolzes Haupt Monsieur de Chessel zu und fragte ihn, welchem glücklichen Zufall sie unsern Besuch verdanke. Obwohl sie gespannt war, den wirklichen Grund meines Erscheinens zu erfahren, sah sie keinen von uns beiden an. Ihre Augen hefteten sich beständig auf den Fluß; aber so, wie sie zuhörte, schien es, als könne sie, den Blinden gleich, jede seelische Regung in den Schwingungen der Stimme erkennen. Und es war in der Tat so. Monsieur de Chessel nannte meinen Namen und teilte ihr einiges aus meinem Leben mit: Ich sei vor wenigen Monaten nach Tours gekommen, wohin mich meine Eltern geführt hätten, als der Krieg Paris bedrohte. Sie sähe in mir, dem Kind der Touraine, dem die Touraine noch unbekannt sei, einen jungen Mann, der, von übermäßiger Arbeit angegriffen, nach Frapesle geschickt worden sei, um sich dort zu erholen, und dem er seine Besitzungen gezeigt habe. Ich sei zum ersten Mal hier. Erst am Fuß des Hügels hätte ich ihm mitgeteilt, daß ich die Reise von Tours nach Frapesle zu Fuß gemacht hätte, und aus Angst um meine ohnehin schwächliche Gesundheit sei er auf den Gedanken gekommen, in Clochegourde einzukehren, in der Hoffnung, daß sie mir eine kurze Rast gönnen werde. – Monsieur de Chessel sagte die Wahrheit; aber ein glücklicher Zufall scheint immer gefunden: Madame de Mortsauf blieb mißtrauisch. Sie richtete auf mich so kalte und strenge Blicke, daß ich die Lider senkte aus einem unbestimmten Gefühl von Scham, aber auch, um Tränen zu verbergen, die an meinen Wimpern zitterten. Die hoheitsvolle Schloßherrin sah die Schweißperlen an meiner Stirn; vielleicht erriet sie auch meine Tränen, denn sie bot mir alles an, was ich brauchte, mit tröstender Güte, die mir die Sprache wiederschenkte. Ich errötete wie ein junges Mädchen, das man bei einem Fehler ertappt, und antwortete mit greisenhaft unsicherer Stimme. Ich dankte.
»Das einzige, worum ich bitte«, sagte ich, meine Augen zu ihr erhebend (zum zweiten Mal traf mich ihr Blick, aber nur für eine Sekunde), »das einzige, was ich wünsche, ist, daß ich von hier nicht vertrieben werde. Ich bin von Müdigkeit so gelähmt, daß ich nicht weiterkann.« – »Warum verdächtigen Sie die Gastfreundschaft unseres schönen Landes?« antwortete sie mir. »Sie werden uns doch das Vergnügen machen, zum Abendbrot in Clochegourde zu bleiben?« fuhr sie, zu meinem Begleiter gewandt, fort.
Ich richtete an meinen Begleiter einen so flehenden Blick, daß er bereit schien, auf ihren Vorschlag einzugehen, der doch, so wie er gefaßt war, eine Absage zu fordern schien. Monsieur de Chessel ermöglichte es seine Weltgewandtheit, diese feinen Nuancen zu unterscheiden; aber ich junger Mann ohne Erfahrung glaubte so fest an die Übereinstimmung von Wort und Gedanken bei einer schönen Frau, daß ich höchlich überrascht war, als mir mein Gastgeber abends auf dem Heimweg sagte: »Ich bin geblieben, weil Sie vor Verlangen vergingen. Aber wenn Sie die Sache nicht wieder einrenken, habe ich es vielleicht mit meinem Nachbarn verdorben.«
Dies ›Wenn Sie die Sache nicht wieder einrenken‹ gab mir viel zu denken. Wenn ich Madame de Mortsauf gefiel, so konnte sie dem nicht gram sein, der mich bei ihr eingeführt hatte. Monsieur de Chessel traute mir also die Fähigkeit zu, ihr Interesse zu erregen; und hieß das nicht soviel wie: mir diese Fähigkeit verleihen? Das bestärkte meine Hoffnung, und ich hatte es gerade jetzt sehr nötig, daß man mir helfe.
»Das scheint mir schwierig«, antwortete er, »Madame de Chessel erwartet uns.« – »Sie hat Sie alle Tage«, entgegnete die Comtesse, »und dann können
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