Die Lilie im Tal (German Edition)
fahl. Aber wenn es sich um ihre Kinder handelte, wenn sie sich zu einem heftigen Ausbruch der Freude oder des Leides hinreißen ließ, so brach aus ihren Augen ein innerliches Leuchten, das sich an den Quellen des Lebens zu entzünden schien und sie ausdörrte. Dieser Blitz hatte mir Tränen entlockt, als sie mich mit ihrer furchtbaren Verachtung strafte, er zwang die Kühnsten, die Augen niederzuschlagen. Die griechische Nase, die von Pheidias hätte gemeißelt sein können, vergeistigte das Oval ihres Gesichts, von den Nasenflügeln liefen feine Linien um die geschweiften Lippen. Ihre Hautfarbe erinnerte an die zarten Blütenblätter weißer Kamelien und ging auf den Wangen in zartes Rosa über. Ihre vollentwickelten, üppigen Körperformen hatten alle jugendliche Anmut bewahrt. Sie mögen den vollen Umfang ihrer Schönheit ermessen, wenn ich Ihnen sage, daß Arm und Schulter, die mich so geblendet hatten, faltenlos glatt waren, Hals und Nacken zeigten keine der Unebenheiten, die den Hals mancher Frauen zu einem Baumstrunk machen; ihre Muskeln traten nicht wie Stränge hervor. Alle Linien waren weich und fließend, weder dem Auge noch dem Pinsel faßbar. Ein zarter Flaum lag wie ein Hauch über ihren Wangen, ihrem Nacken und hielt das Licht fest, das dort ganz seidig war. Ihre kleinen, hübsch modellierten Ohren waren, wie sie selbst sagte, die einer Sklavin und Mutter. Später, als ich ihrem Herzen nahestand, sagte sie oft: ›Da kommt Monsieur de Mortsauf.‹ Sie hatte recht; aber ich hatte nichts gehört, obwohl doch mein Gehör sehr scharf ist. Ihre Arme waren schön, die Hand war lang, mit geschweiften, spitz zulaufenden Fingern, und wie bei antiken Statuen überragte das Fleisch ein klein wenig den Nagel. Ich mißfiele Ihnen, wenn ich flachen Taillen den Vorzug vor runden gäbe, wenn Sie selbst nicht eine Ausnahme wären. Die runde Taille ist ein Zeichen von Kraft, aber die so gebauten Frauen sind herrschsüchtig, gebieterisch, mehr wollüstig als zärtlich. Dagegen sind die Frauen mit flachen Taillen aufopferungsfähig, sehr feinfühlend, mit einem Hang zur Schwermut. Sie sind in einem besseren Sinne Frauen als die andern. Die flache Taille ist weich und schmiegsam, die runde unbeugsam und selbstsüchtig. Nun wissen Sie, wie sie gebaut war. Sie hatte den Fuß einer vornehmen Frau, einen Fuß, der wenig angestrengt wird, der leicht ermüdet und das Auge erfreut, wenn er unter dem Rande des Kleides hervorsieht. Obwohl sie Mutter zweier Kinder war, habe ich keine ihres Geschlechts gekannt, die ein mädchenhafteres Aussehen gehabt hätte. In ihrem Wesen lag Anmut, gepaart mit einem Zug von Staunen und Verträumtheit, der immer zu ihr hinzwang, wie es uns immer wieder zu dem Bilde eines Malers hinzieht, in dem sein Genius eine Welt von Gefühlen Gestalt werden ließ. Ihre Eigenschaften lassen sich übrigens nur in Vergleichen begreiflich machen. Erinnern Sie sich des wilden und herben Duftes des Heidekrauts, das wir auf dem Rückweg von der Villa Diodati brachen, denken Sie an die Blüte, deren schwarze und rosige Farbtöne Ihnen so sehr gefielen, dann werden Sie verstehen, wie jene Frau fern von der Welt elegant sein konnte, natürlich in ihren Äußerungen und wählerisch in den Dingen, die sie zu den ihren machte, zugleich rosig und schwarz. Ihr Leib hatte die frische Jugendkraft, die wir am zarten Frühlingslaub bewundern. Ihr Geist hatte die tiefe Einfalt des Naturmenschen, sie war dem Gefühl nach Kind, durch Leiden ernst gestimmt, gleichzeitig Schloßherrin und kleines Mädchen. Auch gefiel sie ohne jeden Aufwand von Ziererei, rein durch ihre Art, sich zu setzen, aufzustehen, zu schweigen oder ein Wort hinzuwerfen. Sie war meist andächtig, achtsam wie ein Wachtposten, dem das Wohl aller anvertraut ist und der immer nach einem drohenden Unheil späht. Doch huschte manchmal unversehens ein Lächeln über ihre Züge, das ihre im Grunde fröhliche, nur von den Härten des Lebens umdüsterte Natur durchschimmern ließ. Ihre Koketterie war zum Mysterium geworden, sie stimmte träumerisch, statt, wie die anderer Frauen, galante Aufmerksamkeit zu erregen; sie ließ ihre ursprüngliche Glutnatur, ihre blauen Kinderträume erraten wie ein Himmel, der durch Wolkenlichtungen strahlt. Die Spärlichkeit ihrer Gesten und besonders ihrer Blicke – sie sah außer ihren Kindern niemand an – verlieh allem, was sie sagte und tat, eine unglaubliche Feierlichkeit, selbst wenn sie etwas mit der Miene einer Frau sagte oder
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