Die Lilie im Tal (German Edition)
rechten Weg zu weisen, da ich nunmehr am Kreuzweg angelangt war:
›Welch ein Glück für mich, lieber Freund, die zerstreuten Bruchstücke meiner Erfahrung zu sammeln und sie Ihnen zu übermitteln, um Sie für die Gefahren der Welt auszurüsten, durch die Sie sich jetzt mit Geschick Ihren Weg bahnen sollen. Ich war glücklich wie eine Mutter in diesen Nächten, wo ich für Sie gedacht und gesorgt habe. Während ich diesen Brief Satz für Satz niederschrieb und mich im voraus in Ihr morgiges Leben hineinversetzte, unterbrach ich mich manchmal, um ans Fenster zu gehen. Wenn ich von dort die Türme von Frapesle im Mondlicht glänzen sah, sagte ich mir oft: ›Er schläft, und ich wache für ihn.‹ Es war ein wunderbarer Reiz, der mich an das erste große Glück meines Lebens erinnerte: damals, als ich Jacques in seiner Wiege schlafen sah und auf sein Erwachen wartete, um ihm die Brust zu reichen. Sind Sie nicht trotz Ihrer Jahre noch ein Kind, dessen Seele stärkenden Trostes bedarf, der Ihnen in dem schrecklichen Internat, wo Sie soviel gelitten haben, vorenthalten blieb, aber den zu spenden wir Frauen ein Vorrecht haben? Diese unbedeutenden Kleinigkeiten üben einen Einfluß auf Ihre Erfolge aus, bereiten sie vor und befestigen sie. Wird dieser Entwurf eines Lebensplans, mit dem Sie alle Ihre Handlungen in Einklang bringen sollen, nicht eine Art geistiger Mutterschaft sein, eine Mutterschaft, die vom Kinde ganz verstanden wird? Lieber Felix, lassen Sie mich auf die Gefahr hin, einige Irrtümer zu begehen, unserer Freundschaft das Siegel veredelnder Uneigennützigkeit aufdrücken: Sie der Welt überlassen – heißt das nicht auf Sie verzichten? Aber ich liebe Sie genug, um meine Freuden Ihrer Zukunft zu opfern. Seit fast vier Monaten haben Sie mich veranlaßt, seltsam tief über die Gesetze und Sitten nachzudenken, die unsere Zeit beherrschen. Meine Unterredungen mit meiner Tante, die Sie kennen müssen, weil Sie mir diese Frau ersetzen, die Ereignisse ihres Lebens, die mir durch Monsieur de Mortsauf bekannt sind, die Worte meines Vaters, der mit höfischem Leben so vertraut war, die größten und kleinsten Einzelheiten, alles ist in meiner Erinnerung aufgetaucht, zum Nutzen meines Adoptivkinds, das sich aber fast ohne Rat und Hilfe mitten unter die Menschen hineinwagt, das auf dem Punkte ist, sich führerlos in ein Land zu begeben, wo viele durch gedankenlose Verschwendung ihrer guten Eigenschaften zugrunde gehen und manche durch kluges Ausnützen ihrer Untugenden Erfolg haben.
Vor allem denken Sie über meine kurzen Äußerungen nach – Ihnen genügen ja wenige Worte! –, über das, was ich vom Zustand der Gesellschaft, als Ganzes genommen, gesagt habe. Ich weiß nicht, ob die Gesellschaft göttlichen Ursprungs ist oder ob die Menschen sie erfunden haben, auch weiß ich nicht, in welcher Richtung sie sich entwickelt. Was für mich außer Frage steht, ist ihre Existenz. Sobald Sie sie bejahen, statt außerhalb zu leben, müssen Sie ihre Grundbedingungen für vortrefflich halten. Sie werden morgen gewissermaßen einen Vertrag mit ihr abschließen. Benützt die heutige Gesellschaft den Menschen mehr, als sie ihm nützt? Ich glaube es; aber ob der einzelne in ihr mehr Bürden als Würden findet, ob er die Vorteile, die sie ihm bietet, zu teuer bezahlen muß, das sind Fragen, die den Gesetzgeber, nicht den einzelnen angehen. Meiner Ansicht nach sollen Sie in allen Dingen dem Allgemeingültigen bedingungslos folgen, gleichviel, ob es Ihre Interessen schädigt oder fördert. So einfach Ihnen diese Forderung scheinen mag, ihre Durchführung ist schwierig genug. Sie gleicht einem Saft, der die kleinsten Äderchen durchdringen soll, um den Baum zu beleben, sein Laub zu erhalten, seine Blüten zu treiben und seine Früchte so herrlich zu gestalten, daß er allgemeine Bewunderung erregt. Lieber, nicht alle Gesetze sind in Büchern niedergelegt. Auch die Sitten schaffen Gesetze, von denen die wichtigsten oft die wenigst bekannten sind. Es gibt weder Professoren noch Abhandlungen, noch hohe Schulen für dies Recht, das Ihre Handlungen, Ihre Reden, Ihr äußeres Leben, Ihre Art, der Welt entgegenzutreten und den Erfolg auszunützen, bestimmt. Gegen dieses geheime Gesetz verstoßen heißt: in den Niederungen der Gesellschaft hängenbleiben, statt sie zu beherrschen. Es mag sein, daß dieser Brief sich häufig mit Ihren eigenen Gedanken deckt; aber lassen Sie mich immerhin Ihnen meine Frauenpolitik anvertrauen.
Die
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