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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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tiefer blicken, die menschliche Fähigkeiten abzuwägen pflegen, werden bald Ihre Schwäche erkennen und Sie geringschätzen. Denn Banalität ist die Zuflucht der geistig Schwachen. Nun aber werden die Schwachen unglücklicherweise verachtet in einer Gesellschaft, die in ihren Mitgliedern nur Werkzeuge sieht, und vielleicht hat sie recht, denn die Natur verurteilt unvollkommene Wesen zum Untergang. So entstammt auch die rührende Gönnerschaft der Frau vielleicht dem Vergnügen, das sie darin findet, gegen eine blinde Gewalt anzukämpfen und der Klugheit des Herzens zum Sieg über die rohe Gewalt zu verhelfen. Aber die Natur, die viel mehr eine Rabenmutter als eine gute Mutter ist, vergöttert nur die Kinder, die ihrer Eitelkeit schmeicheln. Und den Übereifer, diese erste und so edle Irrung der Jugend, die sich erst wahrhaft befriedigt fühlt, wenn sie ihre Kräfte entfalten kann, und die so sich selbst und andern zum Narren wird: den sparen Sie auf alle Fälle, wo Ihr Gefühl erwidert wird, sparen Sie ihn für das Weib und für Gott! Tragen Sie nicht auf den gemeinen Markt der Welt oder in die Börse des politischen Lebens Schätze, die man Ihnen gegen wertlosen Tand einwechselt! Sie sollen der Stimme folgen, die Ihnen befiehlt, in allen Lebenslagen edel zu sein, sooft diese Stimme Sie ermahnt, sich nicht unnötig zu vergeuden. Denn unglücklicherweise werden die Menschen Sie nach Ihrem Nutzen einschätzen, ohne Ihren Wert in Anschlag zu bringen. Lassen Sie mich ein Bild brauchen, das sich Ihrem Dichtersinn einprägen wird: gleichviel, ob ein Monogramm riesengroß in Gold ausgeführt oder mit Bleistift geschrieben ist – es ist und bleibt ein Monogramm! Ein Mann unserer Zeit hat gesagt: ›Legen Sie nie Eifer an den Tag!‹ Übereifer grenzt an Torheit und führt zu Enttäuschungen. Sie werden nie bei Vorgesetzten eine Wärme finden, die der Ihren gleichkommt; Könige und Frauen bilden sich ein, daß alles ihnen gehört! Traurig genug ist dieser Grundsatz, aber er ist richtig und braucht die Seele nicht zu ernüchtern. Verlegen Sie Ihre edelsten Gefühle in unnahbare Regionen, wo ihre Blüten leidenschaftliche Bewunderung finden, wo der Künstler liebevoll von seinem Kunstwerk träumen kann. Pflichten, lieber Freund, sind nicht Gefühlssache! Tun, was man soll, heißt nicht: tun, was Freude macht. Ein Mann soll kaltblütig für sein Vaterland sterben, und er kann in trunkenem Glück sein Leben einer Frau geben. Eine Hauptregel der Wissenschaft des guten Tones heischt fast unbedingtes Schweigen über sich selbst. Leisten Sie sich einmal den Scherz, mit bloßen Bekannten über Ihre eigene Person zu sprechen, unterhalten Sie sie von Ihren Leiden, Freuden oder Geschäften, bald wird Gleichgültigkeit einer geheuchelten Teilnahme folgen, und wenn sich erst Langeweile einstellt, wird entweder die Gastgeberin Sie höflich unterbrechen, oder Ihre Zuhörer werden sich unter irgendeinem geschickten Vorwand entfernen. Wollen Sie aber die allgemeine Sympathie erringen, für einen liebenswürdigen, geistreichen und zuverlässigen Menschen gelten, dann unterhalten Sie Ihre Zuhörer von ihnen selbst, suchen Sie sie möglichst in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken, selbst wenn Sie Fragen erörtern, die anscheinend mit dem einzelnen gar nichts zu tun haben. Dann werden die Stirnen sich aufheitern, jeder Mund wird Ihnen zulächeln, und kaum sind Sie fort, so wird jeder Sie loben! Ihr Gewissen und die Stimme des Herzens werden Ihnen die Grenze weisen, wo feige Schmeichelei anfängt und liebenswürdige Unterhaltung aufhört. Noch ein Wort über das Reden in Gesellschaft. Lieber Freund, die Jugend neigt immer zu einer gewissen Raschheit im Urteilen, die ihr Ehre macht, ihr aber schaden kann. Darum legte die Erziehung früherer Zeiten den jungen Leuten Schweigen auf, solange sie sich bei großen Herren aufhielten, wo sie die Welt kennenlernen sollten. Denn früher hatte der Adel, wie die Kunst, seine Lehrlinge, seine Pagen, die ihren Brotherren treu ergeben waren. Heutzutage besitzt die Jugend eine ungesunde Treibhausbildung, die sie zu einem strengen Urteil über Taten, Gedanken und Schriften verleitet: sie entscheidet Fragen mit der Schneide eines noch unerprobten Schwertes. Hüten Sie sich vor diesem Mißbrauch! Ihr Aburteilen könnte viele Leute in Ihrer Umgebung verletzen, und man verzeiht vielleicht weniger eine geheime Beleidigung als eine öffentliche Ungerechtigkeit. Junge Leute sind unnachsichtig, weil sie vom Leben

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