Die Lilie im Tal (German Edition)
müssen, Sie nur gewinnen können.« – »Wieso?« – »Mein Brief wird es Ihnen sagen«, antwortete sie in einem fast übermütig heitern Ton, der ihren Ermahnungen den übertriebenen Ernst nahm, in den sich großväterliche Ratschläge zu hüllen pflegen.
Die Comtesse unterhielt sich etwa eine Stunde lang mit mir. Sie ließ mich erkennen, wie tief sie mich liebte. Denn sie bewies mir, mit welcher Sorgfalt sie mich während der drei letzten Monate beobachtet hatte. Sie drang bis in die geheimsten Winkel meines Herzens und suchte ihre Gefühle den meinen genau anzupassen. Der Klang ihrer Stimme war abwechslungsreich und überzeugend, ihre Worte kamen von mütterlichen Lippen und zeigten durch Ton und Inhalt, welch feste Bande uns schon aneinanderketteten.
»Wenn Sie wüßten«, sagte sie zum Schluß, »mit welcher Besorgnis ich Ihren Weg verfolgen werde, welche Freude es mir sein wird, wenn Sie vorwärtskommen, welche Tränen, wenn Sie gegen Hindernisse stoßen! Glauben Sie mir, meine Liebe zu Ihnen ist ohnegleichen, sie ist gleichzeitig unwillkürlich und bewußt. Ach! ich möchte Sie glücklich, mächtig, geachtet wissen, Sie, der Sie für mich ein lebendiger Traum sind.«
Sie rührte mich zu Tränen, sie war gleichzeitig sanft und erschreckend, ihr Gefühl enthüllte sie mit zuviel Kühnheit, es war zu rein, um in dem liebedurstigen jungen Mann die geringste Hoffnung aufkommen zu lassen. Alle meine fleischlichen Sehnsüchte zerrissen sich an ihrem Herzen, aber dafür überströmte sie mich mit dem leuchtenden Licht der himmlischen Liebe, die unverwüstlich und ohne Ende ist, die aber nur die Seele befriedigt. Sie erklomm Höhen, zu denen die gleißenden Flügel meiner Liebe mich nicht emportragen konnten, meiner Liebe, die einst an ihren Schultern sich geweidet hatte. Um zu ihr zu gelangen, hätte es der weißen Flügel des Seraphs bedurft.
»In allen Dingen«, sagte ich ihr, »werde ich denken: was würde meine Henriette dazu sagen?« – »Schön! Ich werde Ihr Stern und Ihr Allerheiligstes sein.« Sie spielte auf meine Kinderträume an. Sie wollte ihre Erfüllung sein, damit meine Begierden sich beruhigten.
»Sie werden meine Göttin und meine Sonne sein, Sie werden mir alles sein!« rief ich aus. »Nein!« antwortete sie. »Ich kann nicht der Born Ihrer andern Freuden sein.« Sie seufzte und lächelte mir zu wie in Schleiern geheimen Leidens oder wie ein Sklave lächelt, der sich einen Augenblick empört hatte. Von diesem Tage an war sie für mich nicht die Geliebte, sondern die Geliebteste. Sie war nicht in meinem Herzen wie die Frau, die ihren Platz verlangt, die dort sich eingräbt durch Aufopferung oder durch das Übermaß der Wollust; nein, sie besaß mein ganzes Herz und beherrschte mein Leben. Sie wurde mir, was Beatrice dem florentinischen Dichter, was die fleckenlose Laura dem venezianischen Dichter war: die Mutter meiner großen Gedanken, die unbekannte Ursache rettender Entschlüsse, die Stütze meiner Zukunft, das Licht, das im Finstern strahlt, wie die Lilie im dunkeln Blätterwerk. Wie gab mir heroische Entschlüsse ein, die dem Feuer trotzen und ihm seine Beute entreißen. Sie schenkte mir die Beharrlichkeit eines Coligny, den Sieger zu besiegen, sich aus der Niederlage wieder zu erheben und die stärksten Ringer zu ermüden.
Am nächsten Tage nach dem Frühstück, als ich von meinen Gastgebern in Frapesle Abschied genommen hatte, die sich so freundlich der Selbstsucht meiner Liebe gefügt hatten, begab ich mich nach Clochegourde. Monsieur und Madame de Mortsauf hatten beschlossen, mich bis nach Tours zu begleiten, von wo ich in der Nacht nach Paris aufbrechen sollte. Auf dem ganzen Wege war die Comtesse schweigsam und voll Liebe. Sie schützte zuerst Migräne vor, dann schämte sie sich dieser Lüge und machte sie wieder gut, indem sie zugab, daß sie mich nicht ohne Bedauern scheiden sehe. Der Comte lud mich ein, zu ihm zu kommen, wenn ich je in Abwesenheit von Chessels das Tal der Indre wiederzusehen wünschte. Wir trennten uns wie Helden, tränenlos, aber wie manche kränkliche Kinder war Jacques beim Abschied tief erschüttert und weinte, indes Madeleine aus weiblichem Instinkt die Hand ihrer Mutter drückte.
»Lieber Junge!« sagte die Comtesse und küßte Jacques leidenschaftlich. Als ich in Tours allein war, überkam mich nach Tisch ein unerklärlicher Anfall von Raserei, wie man sie nur in der Jugend hat. Ich mietete ein Pferd und durchraste in fünf viertel Stunden die
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