Die Lilie im Tal (German Edition)
Gesellschaft durch die Theorie des Einzelglücks auf Kosten der Gesamtheit erklären zu wollen, ist eine verderbliche Lehre, die in ihren logischen Folgerungen zu der Auffassung führt, daß das, was immer der Mensch sich im geheimen aneignet, ohne daß das Gesetz, die Welt oder ein einzelner des Verstoßes gewahr werde, ihm von Rechts wegen zukomme. Nach diesem Kodex ist der geschickte Dieb freigesprochen, die Frau, die unbemerkt gegen ihre Pflichten verstößt, glücklich und weise. Töten Sie einen Menschen, ohne daß die Justiz es nachweisen kann: wenn Sie wie Macbeth ein Diadem erringen, so haben Sie richtig gehandelt! Ihr Interesse wird dann oberstes Gesetz, und es handelt sich nur darum, Zeugen und Schuldbeweisen aus dem Wege zu gehen und sich über die Schwierigkeiten hinwegzusetzen, die Sitte und Gesetz zwischen Ihnen und Ihren Begierden aufrichtet. Von diesem Gesichtspunkt aus beschränkt sich das ganze Problem des Erfolgs darauf, ein Spiel zu wagen, dessen Einsätze eine Million oder die Galeere, eine politische Machtstellung oder völlige Entehrung sind. Zudem hat der grüne Tisch nicht Platz genug für alle Spieler, und es bedarf genialer Kombinationen, um einen Treffer zu machen. Ich wende mich weder an Ihre Religiosität noch an Ihr Gefühl; es handelt sich hier lediglich um das Räderwerk einer Maschine aus Gold und Eisen, deren sofortige Leistungen die Leute interessieren. Liebes Kind meiner Seele, wenn Sie meinen Abscheu gegen jene Verbrechertheorie teilen, so werden Sie finden, daß sich das Wesen der Gesellschaft für jeden gesund denkenden Menschen nur durch die Theorie der Pflicht erklären läßt. Ja, Sie haben gegen Ihre Mitmenschen tausendfältige Verpflichtungen, die auf Gegenseitigkeit beruhen. Meiner Ansicht nach hat der Duc und Pair gegen den Handwerker und Arbeiter mehr Verpflichtungen als umgekehrt. Die Pflichten wachsen in demselben Maße wie die Rechte, die die Gesellschaft dem Menschen zuerkennt, nach dem Grundsatz, der für den Handel wie für die Politik gilt, daß die Last der Verantwortung immer der Größe des möglichen Gewinns entspricht. Jeder zahlt seine Schuld auf seine Art. Wenn unser armer Arbeiter in der Rhétorière sich, ermüdet von der Feldarbeit, zur Ruhe legt – glauben Sie, er hätte dann nicht seine Pflichten voll erfüllt? Er ist ihnen gewiß besser gerecht geworden als mancher Hochgestellte! Wenn Sie nun die Gesellschaft betrachten, in der Sie eine Ihrer Intelligenz und Ihren Gaben entsprechende Stellung einnehmen wollen, so muß für Sie als leitender Gesichtspunkt dieser Grundsatz gelten: erlaube dir nichts, was gegen dein eigenes oder das öffentliche Gewissen verstößt! Der Nachdruck, den ich hierauf lege, mag Ihnen überflüssig scheinen, aber ich bitte Sie dringend – Ihre Henriette fleht Sie an –, den Sinn dieser Worte wohl zu erwägen. So scheinbar simpel sie sind, so bedeuten sie doch, mein Lieber, nichts weniger, als daß Redlichkeit, Ehrgefühl, Vornehmheit der Gesinnung und Höflichkeit die sichersten, schnellsten und geradesten Wege zum Erfolge sind. In dieser Welt des Eigennutzes werden Ihnen eine Menge Leute sagen, daß man mit Gefühlsduselei nicht weiterkommt, daß zu zarte moralische Bedenken hinderlich seien. Sie werden schlecht erzogene, ungebildete oder kurzsichtige Menschen finden, die einen Untergebenen beleidigen; die sich einer alten Frau gegenüber eine Unhöflichkeit zuschulden kommen lassen; denen es zu langweilig ist, sich einen Augenblick mit einem Greis abzugeben, bloß weil sie finden, daß diese Leute ihnen nichts nutzen können. Darauf werden Sie beobachten, daß diese selben Menschen sich an Dornen ritzen, denen sie die Spitze nicht abgebrochen haben, und ihr Glück um einer Bagatelle willen verscherzen; während der Mensch, der sich früh mit der Theorie der Pflicht vertraut gemacht hat, weniger auf Schwierigkeiten stößt – vielleicht wird er länger brauchen, seinen Weg zu machen, aber sein Erfolg wird festen Grund und Bestand haben, während der vieler anderer zusammenbricht.
Wenn ich Ihnen sage, daß zum Befolgen dieser Lehre vor allen Dingen Kenntnis der guten Umgangsformen nötig ist, so werden Sie vielleicht finden, daß meine Gesetzgebung etwas an den Ton bei Hofe und an meine eigene Erziehung im Hause Lenoncourt erinnert. Lieber Freund, ich messe dieser scheinbar so geringfügigen Unterweisung den allergrößten Wert bei. Die Umgangsformen der höhern Kreise sind Ihnen ebenso unerläßlich wie die mancherlei
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