Die linke Hand Gottes
seinen Mitzöglingen vorüber, Fünfjährigen, die wie kleine Kinder überall auf der Welt lachten, und Achtzehnjährigen, die schon wie gestandene Männer aussahen. Gruppen von achtzig Jungen übten sich im gegenseitigen Sich-Wegstoßen und schrien dabei rhythmisch. Eine Kolonne von fünfhundert Zöglingen marschierte schweigend und bewegte sich auf die entsprechenden Flaggensignale wie ein Mann: erst links, dann rechts, Kolonne Halt, Kolonne rückwärts, Halt, vorwärts. Vor der großen Außenmauer der Ordensburg trainierte Kleist eine Abteilung von zehn Akoluthen, die alle gut vier Jahre älter waren als er selbst. Er nannte sie unnütz, hässlich und ungeschickt, ihre Zähne seien schlecht und obendrein schielten sie noch. Er hörte erst auf, als er Cale kommen sah.
»Du bist spät dran«, sagte er. »Ein Glück für dich, dass Primo krank ist, sonst hätte er dir das Fell gegerbt.«
»Du kannst es ja versuchen, wenn dich der Hafer sticht.«
»Ich? Das ist mir doch egal, ob du hier mitmachst oder nicht. Dein Problem.«
Cales Schulterzucken bedeutete wohl, dass er damit Recht hatte. Kleist, der mit entblößtem Oberkörper dastand, war von beeindruckender, wenn auch kurioser Körpergestalt. Er hatte mächtige Schultern und einen ebensolchen Rücken, so als ob der Rumpf eines erwachsenen Mannes zwischen dem Kopf und den Beinen eines Vierzehnjährigen geschraubt worden wäre. Der rechte Arm und die rechte Schulter waren muskelbepackter als die linke Seite, was ihm ein fast krankhaft asymmetrisches Äußeres gab.
»Also gut«, sagte Kleist, »schauen wir mal, woran es hapert.« Er genoss es offenbar, seine Überlegenheit zu zeigen, und wollte, dass Cale dies auch bemerkte.
Cale hob den Langbogen, den Kleist ihm gereicht hatte, spannte die Bogensehne bis zur Wange, zielte, hielt die Spannung eine Sekunde lang und ließ den Pfeil auf das achtzig Schritte entfernte Ziel schnellen. Er stöhnte, als der Pfeil sich löste, in flachem Bogen auf das Ziel, die Attrappe eines Menschen, zuschoss und es um mehrere Fußbreit verfehlte.
»Mist!«
»O je, o je«, sagte Kleist, »so etwas habe ich schon seit... ach, ich weiß gar nicht, seit wann nicht mehr gesehen. Du beherrschst die Technik doch sonst einwandfrei. Was ist los?«
»Sag mir lieber, was ich tun muss, um es besser zu machen.«
»Oh, das ist schnell gesagt. Du spannst die Sehne, wenn du sie schon loslassen solltest – nämlich so.« Er zupfte heftig an der Sehne seines eigenen Bogens, um Cale den Fehler zu zeigen, und führte ihm dann mit großem Vergnügen die richtige Handhabung vor. »Außerdem machst du den Mund auf, wenn du schießt, und lässt den Ellbogen deines Bogenarms sinken, ehe du loslässt.« Cale wollte protestieren. »Und«, unterbrach ihn Kleist, »du hältst deine Sehnenhand nicht still.«
»Gut, ich habe verstanden. Sag mir im Einzelnen, was ich tun muss. Ich habe mir ein paar schlechte Sachen angewöhnt, mehr nicht.«
Kleist holte hörbar und nachdrücklich Luft.
»Ich weiß nicht, ob das bloß ein paar schlechte Angewohnheiten sind. Ich glaube eher, dass du ein Zitterer bist.« Er zeigte mit einem Finger auf den Kopf. »Da liegt bei dir das Problem, mein Lieber. Ja, wenn ich genauer darüber nachdenke, dann bist du der schlimmste Fall von einem Zitterer, der mir begegnet ist.«
»Das hast du dir jetzt gerade ausgedacht.«
»Doch, du hast das Zittern, das Zucken, den Tatterich. Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Das Maul aufsperren, den Ellbogen sinken lassen – das deutet alles auf deine innere Verfassung hin. Das Problem liegt allein in deinem Geist.« Kleist legte einen Pfeil an seinen Bogen, spannte die Sehne und ließ los – alles in einer einzigen fließenden Bewegung. Der Pfeil beschrieb einen eleganten Bogen und landete mit einem federnden Schlag in der Attrappe. »Siehst du, das war perfekt, das äußere Zeichen innerer Anmut.«
Jetzt musste Cale lachen. Er drehte sich um und wollte einen Pfeil aus dem Köcher holen, der auf der Bank hinter ihm lag, als er Bosco querfeldein auf Pater Gil zuschreiten sah. Dieser schickte sogleich einen Akoluthen los. Cale hörte ein leises »Pst« hinter sich und beobachtete, wie Kleist heimlich den Bogen auf Bosco richtete und dazu das Geräusch eines abschwirrenden Pfeils nachahmte.
»Na los! Aber du traust dich ja doch nicht.«
Kleist lachte und wandte sich wieder seinen Schülern zu, die sich in einiger Entfernung hingesetzt hatten und plauderten. Einer von ihnen, Donovan, hatte,
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