Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die linke Hand Gottes

Die linke Hand Gottes

Titel: Die linke Hand Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
Vom Netzwerk:
ihm nachgegeben. Doch damit hast du nichts Gutes getan, dachte er. Ganz und gar nicht.
    Unterdessen erreichte er sein Ziel. Er stand vor einer kleinen Nische im Wandelgang, der hier eine Lücke aufwies, wo die Innenmauer nicht ganz mit dem äußeren Wehrgang der Ordensburg abschloss. Er holte tief Luft und zwängte sich mit der schmalen Körperseite in die Lücke. In ein paar Monaten wäre er dafür zu breit gewesen. Er streckte eine Hand zu einer Vertiefung aus, die er früher, als er noch kleiner war, in die Mauer gekratzt hatte, und zog sich in den dort befindlichen Hohlraum. Drinnen war es stockdunkel, aber er kannte das enge Versteck wie seine Westentasche. Hockend löste er einen lockeren Backstein aus der Mauer, dann noch einen und schob sie beiseite. Er zog ein langes Seil mit einem gebogenen Eisenhaken an einem Ende hervor und zwängte sich zurück in die Nische.
    Hier horchte er, ob die Luft rein war. Nichts. Dann tastete er die raue Oberfläche der Hauptmauer ab und ließ den Eisenhaken in eine Spalte einrasten, die er vor vielen Monaten gleich nach der Fertigstellung des Seils gebohrt hatte. Das Seil war weder aus Jute noch Sisal gemacht, sondern aus den Haaren der Mönche und Zöglinge, die er jahrelang beim Putzen der Waschräume gesammelt hatte. Zu dieser widerlichen, Brechreiz auslösenden Arbeit hatte er sich gezwungen, weil sie ihm eine einmalige Chance für ein anderes Leben bot. Zuerst prüfte er den Halt des Seiles, dann zog er sich mit erstaunlicher Kraft nach oben, wobei er sich mit Rücken und Füßen gegen die beiden Wände der Nische stemmte. Er löste den Haken, suchte eine andere Spalte, um ihn dort einzurasten, und zog sich erneut nach oben. Auf diese Weise gelangte er nach einer Stunde mühseligen Kletterns bis auf die Zinnen der Ordensburg.
    Oben angekommen, atmete er erleichtert durch. Gut fünf Minuten lag er dort, die ausgestreckten Arme bleischwer und höllisch schmerzend. Aber er durfte nicht länger warten. Er nahm das aufgerollte Seil, platzierte den Haken in der größten Spalte, die er fand, und warf das Seil über die Zinne.
    Er hoffte, es würde mit einem dumpfen Knall auf dem Boden aufschlagen, aber aus den Geräuschen, die beim Hoch- und Runterziehen entstanden, war nichts Genaues zu entnehmen. Das Seil war anderthalb mal so lang wie die Mauer auf der Innenseite, trotzdem konnte er nicht ausschließen, dass die Außenmauer an dieser Stelle womöglich an einem Steilhang stand.
    Eine Weile schaute er ins bodenlose Dunkel, dann kauerte er sich auf die Kante. Mit der rechten Hand zog er das Seil straff, sodass der Haken in der Spalte fest saß. Was er vorhatte, war mehr als riskant. Aber besser so, als gehenkt und gevierteilt werden. Mit diesem trostreichen Gedanken hielt er sich am Seil fest und glitt über die Zinne.
    Mit gekreuzten Beinen kletterte Cale langsam abwärts. Ein Kinderspiel und ein Grund zum Jubeln, wenn nicht die Ungewissheit über das Seil gewesen wäre. Es hätte unter der Last reißen oder durch Reibung an der Mauerkante zerschlissen werden können. Außerdem bestand da noch die Möglichkeit, dass es nicht lang genug war und er am Ende zwanzig Klafter über dem Erdboden baumelte. Selbst aus geringer Höhe hätte er sich beim Sturz auf felsigen Boden die Beine brechen können. Aber wozu sich darüber Sorgen machen? Dazu war es zu spät.
    Keine fünf Minuten später hatte er den Knoten im Seil erreicht, der die Länge von zwanzig Klaftern markierte, kurz darauf waren es fünfzehn. Schließlich hatte er den dicken Knoten am Ende des Seiles erreicht.
    Da war nichts zu machen.
    Eins, zwei, drei. Er ließ los.

ACHTES KAPITEL
    K leist und Vague Henri zündeten alle paar Minuten erneut die Kerze an, die Cale aus dem Zimmer des Zuchtmeisters gestohlen hatte, und betrachteten das Mädchen. Sie waren beide der Meinung, dass es das Beste sei, immer wieder nach ihr zu sehen. Bei dem Vorrat an Kerzen, den Cale mitgebracht hatte, konnten sie sich das leisten. Dass Leute diesen starren Blick bekamen und so still wurden wie das Mädchen, kannten sie nur von Jungen, die mehr als hundert Stockschläge bekommen hatten. Behielten sie diesen starren Blick mehrere Tage lang, brachte man sie für immer fort. Diejenigen, die sich zusammenrissen, schrien oft nach Wochen oder Monaten mitten in der Nacht laut auf. Im Fall eines Jungen namens Morto war das erst nach Jahren geschehen. Auch er verschwand für immer.
    Deshalb schauten sie immer wieder nach dem Mädchen. Sollte sie

Weitere Kostenlose Bücher