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Die linke Hand Gottes

Die linke Hand Gottes

Titel: Die linke Hand Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
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anfangen zu schreien, könnte das einer von den Mönchen hören.
    Wenn Vague Henri die Kerze anzündete, sagte er jedes Mal: »Das wird schon wieder.« Sie reagierte nicht außer hin und wieder durch ein leises Zittern. Beim dritten Mal erinnerte sich Henri an etwas aus ferner Vergangenheit, einen tröstenden Ausdruck, den er vor langer Zeit gehört und dann vergessen hatte. »Na komm«, sagte er.
    Außer aus Sorge um das Mädchen zündeten sie die Kerze noch aus einem anderen Grund wiederholt an: Sie konnten sich an ihr nicht sattsehen. Beide waren als Siebenjährige in die Ordensburg gekommen, und ihr vorheriges Leben erschien ihnen so fern wie der Mond. Henris Eltern waren schon bald nach seiner Geburt gestorben. Kleists Eltern hatten ihn für fünf Dollar an den Erlöserorden verkauft, im Übrigen waren sie kaum weniger roh mit ihm umgegangen als die Mönche. Infolgedessen hatten beide, seit sie durch das große Burgtor getreten waren, kein Mädchen und keine Frau mehr gesehen. Von den Mönchen wiederum hatten sie nur so viel erfahren, dass Mädchen und Frauen die Lockspeise des Teufels seien. Sollten sie jemals auf dem Weg von der Burg zur Front oder in den Osterferien zufällig einer Frau begegnen, dann hatten sie sofort die Augen zu senken. »Der Körper einer Frau ist an sich schon Sünde und ruft nach himmlischer Rache.« Nur eine Frau durfte ohne Abscheu und Besorgnis betrachtet werden, das war die Mutter des Gehenkten Erlösers, die als Einzige ihres Geschlechts rein war. Sie war eine Quelle des Mitleids, des immerwährenden Beistands und Trostes – wiewohl die Jungen keinen blassen Schimmer hatten, worin diese Tugenden bestanden, da sie solche Wohltaten noch nie erfahren hatten. Auch darüber, wozu die Frauen verlockten, äußerten sich die Mönche nur vage. Deshalb betrachteten Kleist und Henri das Mädchen mit großer Neugierde, in die sich Angst und auch Ehrfurcht mischten. Wer die Mönche zu solchen Hasstiraden trieb, musste über große Macht verfügen und dem galt es, auf Wegen, die den Jungen noch unbekannt waren, mit Ehrfurcht zu begegnen.
    So wie das Mädchen jetzt im Kerzenschein zitterte und bebte, machte sie ihnen keine Angst. Aber sie faszinierte, vor allem durch ihre ungewöhnliche Gestalt. Das Gewand aus edlem Tuch, besser als alles, was die Jungen jemals getragen hatten, trug sie in der Taille mit einem Band gerafft.
    Kleist gab Henri mit einem Zeichen zu verstehen, etwas von ihr abzurücken. Dann flüsterte er ihm ins Ohr.
    »Was sind das für Buckel, die sie da auf der Brust hat?«, fragte er.
    Vague Henri richtete den Lichtschein der Kerze möglichst rücksichtsvoll auf die Brust des Mädchens und betrachtete sie eingehend.
    »Keine Ahnung«, war alles, was er sagte.
    »Sie muss ganz schön dick sein«, flüsterte Kleist. »Ungefähr wie dieser Fettarsch von Küchenmeister.« In der Ordensburg gab es selbstverständlich keine dicken Jungen. Unter ihnen hatte kaum einer eine Unze Fleisch zu viel.
    Vague Henri überlegte.
    »Der Küchenmeister ist wabbelig und rund wie ein Fass. Sie dagegen hat Kurven.«
    »Ja und, weiter?«, fragte Kleist.
    Vague Henri dachte nach.
    »Wir sollten sie in Ruhe lassen«, sagte er und fügte hinzu: »Er muss sie verdroschen haben.«
    Kleist betrachtete seufzend das Mädchen.
    »Sie sieht aber nicht so aus, als könnte sie Dresche vertragen, jedenfalls nicht richtige, wie Picarbo sie austeilen kann.«
    »Austeilen konnte«, berichtigte ihn Henri.
    Beide grunzten zufrieden, obwohl sein Tod sie in eine gefährliche Lage gebracht hatte. »Warum hat er sie wohl geschlagen?«
    »Wahrscheinlich«, sinnierte Henri, »weil sie eine Lockspeise des Teufels ist.«
    Kleist nickte. Das leuchtete ein.
    »Wie heißt du denn?«, fragte Henri nicht zum ersten Mal. Aber sie antwortete nicht.
    »Wie lange Cale wohl braucht?«, fragte Henri.
    »Glaubst du wirklich, dass er einen Plan hat?«
    »Ja, sicher«, antwortete Vague Henri im Ton völliger Gewissheit. »Wenn er etwas sagt, dann meint er es auch so.«
    »Freut mich, dass du dir so sicher bist. Ich wünschte, ich wäre es auch.«
    Da machte das Mädchen plötzlich den Mund auf, aber sie sprach so leise, dass die Jungen sie nicht verstanden.
    »Äh, was hast du gesagt?«, fragte Henri.
    »Riba.« Sie holte tief Luft. »Ich heiße Riba.«

NEUNTES KAPITEL
    Ü berglücklich stand Cale auf und riss jubelnd die Arme hoch. Er hatte den Fall unbeschadet überstanden, falls man überhaupt von einem Fall sprechen konnte, war er

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