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Die linke Hand Gottes

Die linke Hand Gottes

Titel: Die linke Hand Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
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auf Cale, der rückwärts von ihm wegkroch. Dann blickte der Mönch an seinen Beinen hinunter. Ein großer Blutfleck breitete sich auf seiner Kutte aus.
    Cale fühlte sich plötzlich nicht mehr wie ein verängstigter Junge oder ein wahnsinniger Mörder. Eine seltsame Ruhe überkam ihn und gab ihm eher das Aussehen eines neugierigen Kindes, das einen merkwürdigen, aber nicht übermäßig beeindruckenden Gegenstand betrachtete. Als Picarbo die Kutte hochhob, kamen seine vor Blut triefenden Beinkleider zum Vorschein. Er schaute Cale an, als wollte er ihm sagen: »Sieh, was du mir angetan hast.« Um die Haut frei zu legen, zog er die Beinkleider ab. Blut quoll stoßweise aus der kleinen Wunde. Picarbo stierte fassungslos darauf, dann warf er Cale einen ebenso fassungslosen Blick zu. »Bring mir ein Handtuch«, sagte er und zeigte auf einen Stapel Tücher auf dem Tisch neben dem toten Mädchen. Cale stand auf, rührte sich jedoch nicht von der Stelle, so als wäre das, was er sah, nur zum Teil Wirklichkeit. Der Zuchtmeister, der die Blutung mit bloßen Händen zu stillen versuchte, seufzte auf, als habe er ein kleines, aber höchst ärgerliches Leck bekommen, während sich schwarzes Blut ununterbrochen auf den Boden ergoss.
    Nach wie vor zögerte Cale. Die Seite seines Selbst, die nicht begriff, was er getan hatte, glaubte, die Dinge würden wieder ihren gewohnten Lauf nehmen, wenn er nur rechtzeitig umkehrte, aber je länger er zauderte, desto schwieriger würde es werden. Eine andere Stimme sagte ihm, dass das Rad nicht mehr zurückgedreht werden konnte. Schlagartig war alles grundlegend und schrecklich anders. Ihm fiel ein Vers aus dem Buch der Sprichwörter ein, den er schon hundertmal gehört hatte und der ihm jetzt nicht mehr aus dem Sinn ging: »Wir sind ausgeschüttet wie Wasser, niemand kann uns mehr einsammeln.« Und so blieb er wie gebannt stehen und sah zu, wie Picarbo auf seinem Stuhl, von Erschöpfung gezeichnet, immer mehr zusammensackte.
    Cale beobachtete noch, wie bei seinem Gegenüber die Atmung aussetzte und das Licht in den Augen brach. Picarbo, der fünfzehnte Zuchtmeister dieses Namens, weilte nicht mehr unter den Lebenden.

SECHSTES KAPITEL
    K leist wachte mit dem Gefühl auf, erstickt und niedergedrückt zu werden. Dafür gab es einen einfachen Grund: Cale hatte ihm die Hand auf den Mund gelegt, und Vague Henri drückte ihm die Hände an die Seiten.
    »Psst! Wir sind’s, Cale und Henri.« Cale wartete, bis Kleist sich nicht mehr wehrte, dann nahm er die Hand von dessen Mund. Vague Henri löste ebenfalls seinen Griff. »Du musst jetzt mit uns kommen. Wenn du hierbleibst, bist du tot. Kommst du?«
    Kleist richtete sich auf und schaute Vague Henri im fahlen Mondlicht an.
    »Stimmt das?«
    Vague Henri nickte. Kleist seufzte und stand auf.
    »Wo ist die Spinne?«, fragte Kleist und hielt nach dem Schlafsaalaufseher Ausschau.
    »Ist draußen, eine rauchen. Wir müssen sofort los.«
    Cale wandte sich zum Gehen und die anderen folgten ihm. Einmal hielt er kurz an und beugte sich über das Bett eines Jungen, der so tat, als schliefe er. »Wenn du petzt, Savio, reiße ich dir die Därme aus dem Bauch, verstanden?« Der Junge nickte, ohne die Augen zu öffnen.
    Draußen – die Spinne hatte die Tür aus Nachlässigkeit nicht abgeschlossen – führte Cale die anderen erst auf dem Wandelgang bis zur Statue des Gehenkten Erlösers und dann zu der Tür, die sie am Tag zuvor entdeckt hatten.
    »Was nun?«, fragte Kleist.
    »Srill.«
    Cale drückte die Tür auf und schob die anderen beiden nach drinnen. Dann zündete er eine Kerze an, die ein helleres Licht abgab als jede andere Kerze, die sie je zuvor gesehen hatten.
    »Wie hast du die Tür aufgekriegt?«, wollte Kleist wissen.
    »Mit einer Brechstange.«
    »Woher hast du diese Kerze?«
    »Von dort, woher ich auch die Brechstange habe.«
    Kleist wandte sich an Vague Henri.
    »Weißt du, was hier gespielt wird?« Vague Henri schüttelte den Kopf. Cale, die Kerze in der Hand, ging weiter in den Tunnel.
    »Herr im Himmel!«, rief Kleist erstaunt, als er die am Boden kauernde, verängstigte Gestalt entdeckte.
    »Keine Angst«, beruhigte sie Cale und beugte sich zu dem Mädchen hinab, »sie sind hier, um uns zu helfen.«
    »Sag jetzt, was hier gespielt wird«, forderte ihn Kleist nochmals auf. »Oder es setzt Prügel, auf der Stelle.«
    Cale warf ihm einen Blick zu und lächelte, wenn auch grimmig.
    »Hör zu...«, sagte er und blies die Kerze aus. Zwanzig Minuten

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