Die linke Hand Gottes
mit der sie kämpfte, beeindruckte ihn auch jetzt, als sie sich im trockenen Herbstlaub immer wieder hin und her wälzten, im tödlichen Kampf, keuchend, fast Mund an Mund, sich gegenseitig in die Augen starrend. Allmählich aber gewann er als der Stärkere die Oberhand. Ihr sehniger Körper wand sich mit aller Kraft unter ihm, aber Cadbury presste sie mit seinem ganzen Gewicht fest auf den Boden. Doch Jennifer hatte außer Hass und Wut noch einen weiteren Pfeil im Köcher: ihre furchtbare Liebe. Wie konnte sie den Jungen aufgeben und sterben? Mit aller Kraft drehte sie sich auf die Seite, warf Cadbury ab, befreite sich aus dem Griff seiner linken Hand und sprang auf. Im nächsten Augenblick rannte sie flusswärts zu ihrem Liebling.
»Thomas Cale! Thomas Cale!«, rief sie. Der Junge kletterte gerade ans moosige Ufer und hob die Augen. Nackt, mit offenem Mund, sah er, wie eine Furie den Hügel herabrannte und dabei immer wieder seinen Namen rief: »Thomas Cale! Thomas Cale! Thomas Cale!«
Cale hatte in seinem Leben schon viel gesehen, aber dieser Anblick befremdete ihn mehr als alles andere: ein wildes Wesen, nicht Mann, nicht Frau, stürzte, im Gesicht alle Zeichen des Wahnsinns, mit gezücktem Messer schreiend auf ihn zu. Aufgeschreckt hastete er zu seinen Kleidern, suchte nach dem Schwert, verlor es, hob es wieder auf und nahm Stellung ein, um den Hieb zu parieren, als sie schon fast bei ihm war. Plötzlich ging ein Pfeifen durch die Luft, gefolgt von einem dumpfen Aufprall, wie wenn ein Reiter seinem Pferd einen Klaps auf die Flanke gibt. Jennifer keuchte heiser, überschlug sich, preschte an Cale vorbei und prallte mit voller Wucht gegen den Stamm einer Eiche.
Cale rannte hinter einen Baum, das Herz raste ihm wie einem gerade in die Falle gegangenen Vogel. Er suchte nach einer Fluchtmöglichkeit. Das Gelände um den Baum herum bot auf vierzig bis sechzig Schritte keine Deckung. Er schaute zu dem Körper hinüber, der verdreht und mit dem Rücken zur Seite gekehrt am Stamm der Eiche lag. Es war eine Frau, wie er jetzt erkannte, und sie hatte einen drei Unzen schweren Pfeil im Rücken stecken, dessen Spitze ihr aus der Brust ragte. Aus ihrer Nase fiel alle drei, vier Sekunden ein Tropfen Blut. Dass ein solcher Schuss auf ein bewegliches Ziel traf, war einerseits nicht leicht, aber andererseits auch kein so seltenes Kunststück. Sie war ja aus der Richtung des Schützen gekommen, während er, wenn er jetzt sofort startete, gerade in die Schusslinie liefe. Aus dem Stand brauchte er fünf bis sechs Sekunden, um Deckung zu finden. Zeit genug für einen Schuss, aber es musste schon ein Meisterschuss sein. Einem Schützen wie Kleist wäre das bei drei von vier Versuchen gelungen.
»He, Junge!«
Zweihundert Schritte bis zum Tod, dachte Cale.
»Was wollt Ihr von mir?«
»Wie wäre es mit >danke«
»Danke und jetzt verschwindet.«
»Du undankbare Ratte, ich habe dir gerade das Leben gerettet.«
Bewegte er sich? Seine Stimme klang so.
»Wer seid Ihr?«
»Dein Schutzengel, Junge, niemand sonst. Die Frau da war sehr böse.«
»Was wollte sie von mir?«
»Dir den Hals durchschneiden, davon lebte sie übrigens.«
»Warum gerade mir?«
»Keine Ahnung, Junge. Vipond hat mich beauftragt, auf dich und seinen Bruder, diesen Tunichtgut, ein Auge zu werfen.«
»Warum sollte ich Euch glauben?«
»Ob du mir glaubst oder nicht, spielt keine Rolle. Ich will nur nicht, dass du mir folgst. Sonst müsste ich dir auch einen Pfeil verpassen, und das wäre mir gar nicht recht nach all der Mühe, die ich hatte, dich am Leben zu erhalten. Bleib also für die nächste Viertelstunde da, wo du bist. Ich mache mich in dieser Zeit aus dem Staub. Abgemacht?«
Cale überlegte. Sollte er ihm folgen, ihn überwältigen und die Wahrheit aus ihm herausprügeln? Bei dem Versuch könnte er einen Pfeil in den Rücken kriegen. Der Mann machte den Eindruck, genau zu wissen, was er wollte. Aber es gab ja die andere Möglichkeit.
»Abgemacht. Eine Viertelstunde.«
»Ehrenwort?«
»Wie?«
»Schon gut. Wie wäre es jetzt mit >danke«
Und damit trennten sich beide. Cadbury zog sich in den tiefsten Teil des Waldes zurück, und Cale, der den Baum als Schutzschild nutzte, sprang wieder in den Fluss zurück und schwamm davon.
Drei Stunden später standen Cale und IdrisPukke wieder an der Stelle am Fluss und untersuchten die Leiche der Frau im Schutz einer Baumgruppe. Vorher hatten sie zwei Stunden lang nach Spuren von Cales angeblichem Retter
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