Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die linkshändige Frau - Erzählung

Die linkshändige Frau - Erzählung

Titel: Die linkshändige Frau - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
allein. Es ist eine klare Nacht heute. Ich sehe bis zu den Hügeln hinauf, wo Sie wohnen.«
    Die Frau: »Ich würde Sie gern am hellen Tag sehen.«
    Der Verleger: »Sind Sie auch fleißig, Marianne? Oder sitzen Sie nur herum, da draußen in der Einöde?«
    Die Frau: »Ich bin mit Stefan heute in der Stadt gewesen. Er versteht mich nicht: die Bankhochhäuser, die Tankstellen, die U-Bahnstationen findet er nämlich wunderbar.«
    Der Verleger: »Vielleicht gibt es da wirklich eine neue Schönheit, die wir nur noch nicht sehen können. Ich liebe die Stadt auch. Von der Dachterrasse des Verlagshauses sehe ich bis zum Flughafen hin, wo in der Ferne die Flugzeuge landen und aufsteigen, ohne daß man sie hört. Das gibt ein zartes Bild, das mich im Innersten belebt.«
    Und nach einer Pause: »Und was werden Sie jetzt tun?«
    Die Frau: »Mich schön anziehen.«
    Der Verleger: »Also wollen wir uns doch treffen?«
    Die Frau: »Ich werde mich schön anziehen zumWeiterarbeiten. Ich habe plötzlich Lust dazu.«
    Der Verleger: »Nehmen Sie Tabletten?«
    Die Frau: »Manchmal – um wachzubleiben.«
    Der Verleger: »Ich will dazu lieber nichts sagen, da Sie doch jede Warnung als Drohung auffassen. Sehen Sie nur zu, daß Sie nicht auch diesen milden, traurigen Blick kriegen, den so viele meiner Übersetzer haben.«
    Sie ließ ihn zuerst auflegen, holte dann aus dem Wandschrank ein langes seidenes Kleid hervor. Vor dem Spiegel probierte sie eine Perlenkette, die sie gleich wieder abnahm. Sie betrachtete sich stumm von der Seite.
    Die Siedlung lag im Morgengrauen; eben gingen die Straßenlaternen aus. Die Frau saß ohne Bewegung am Schreibtisch.
    Sie ging, mit geschlossenen Augen, kreuz und quer durch den Raum; dann, sich jeweils auf dem Absatz umdrehend, auf und ab. Sie bewegte sich rückwärts, sehr schnell, abbiegend, wieder abbiegend. Sie stand in der Küche vor dem mit schmutzigem Geschirr angehäuften Spülbecken. Sie ordnete das Geschirr in die Spülmaschine, schaltete das Transistorradio auf der Anrichte an, aus dem sofort Weckmusik und muntere Sprecherstimmen gellten. Sie stellte den Apparat ab, bückte sich und öffnete die Waschmaschine; zerrte ineinander verwickelte Bündel feuchter Leintücher heraus, ließsie am Küchenboden liegen. Sie kratzte sich heftig den Haaransatz, mit der ganzen Hand, bis sie leicht blutete.
    Sie öffnete den Briefkasten vor der Haustür, der voll von Werbezetteln und Vorgedrucktem war; nichts Handschriftliches darunter, oder wenn, dann nur in Reklamebriefen nachgeahmt. Sie knüllte das Papier zusammen, zerriß es. Sie ging, Hausarbeiten verrichtend, in der Wohnung hin und her, stockend, umkehrend, sich bückend, im Vorbeigehen irgendwo an einem Fleck kratzend, ein einzelnes Reiskorn aufhebend und zum Abfall in die Küche tragend. Sie setzte sich, stand auf, machte ein paar Schritte, setzte sich wieder. Sie nahm eine Papierrolle, die in einer Ecke lehnte, rollte sie auseinander, rollte sie wieder zusammen; stellte sie schließlich zurück, wenig neben den alten Platz.
    Das dasitzende Kind schaute zu, wie sie sich ruckhaft um es herumbewegte. Sie bürstete den Sessel ab, auf dem es saß, und bedeutete ihm stumm, aufzustehen. Kaum aufgestanden, wurde es von ihr mit dem Ellbogen weggestoßen, wobei sie schon seinen Sitz säuberte, der gar nicht schmutzig war. Das Kind zog sich ein wenig zurück und blieb still, wo es war. Plötzlich warf sie mit aller Kraft die Bürste nach ihm, traf aber nur ein Glas, das zerbrach. Sie ging mit geballten Fäusten auf das Kind zu, das nur schaute.
    Es läutete an der Tür: beide wollten sofort hin. Sie stieß das Kind zurück, daß es auf den Rücken fiel. Als sie die Tür aufmachte, schien da niemand zu sein. Dann senkte sie den Blick, und dort duckte sich der dicke Freund des Kindes und grinste schief.
    Sie saß starr im Wohnraum, während das Kind und sein dicker Freund laut singend von einem Stuhl auf Kissen sprangen: »Die Scheiße springt auf die Pisse, und die Pisse springt auf die Scheiße, und die Scheiße springt auf die Spucke …« Dabei kreischten sie und Bogen sich vor Lachen; flüsterten einander ins Ohr, schauten die Frau an, zeigten auf sie und lachten wieder. Sie hörten nicht auf; die Frau reagierte nicht.
    Sie saß an der Schreibmaschine. Das Kind kam auf Zehenspitzen dazu und lehnte sich an sie. Sie stieß es mit der Schulter weg, aber es blieb neben ihr stehen. Die Frau zog es an sich heran und würgte es plötzlich; schüttelte es; ließ es

Weitere Kostenlose Bücher