Die Liste der vergessenen Wünsche: Roman (German Edition)
ihre Richtung blickte, sah sie, dass die Augen ihrer Mutter auf sie gerichtet waren, und Libbys warmes Lächeln war ihr ein Trost.
Nachdem die Gäste sich im Kreis um das Grab herum aufgestellt hatten, gab Leo seine schönste Erinnerung an Claras geliebte Katze zum Besten und lud die Gruppe ein, es ihm gleichzutun. Als Clara an der Reihe war, trat sie zögernd vor, zupfte mit der einen Hand ihren Badeanzug aus der Poritze und drückte mit der anderen Natalie Marissa an die Brust. Mit zitternder Stimme sagte sie aus dem Gedächtnis folgenden Haiku auf, den sie sich am selben Tag, versteckt in der Ahornburg, ihrem Baumhaus, ausgedacht hatte:
In ewiger Liebe
Mein flauschiger Freund
Ich vermisse dich, Schweinebraten.
Nachdem ein einfaches Schild mit der Aufschrift »Ruhe sanft« auf Schweinebratens Grab gelegt worden war, senkten alle – Mötley Crüe eingeschlossen – den Kopf für eine Schweigeminute. Zum Abschluss der Zeremonie spielte Wuschel, Claras Nachbar von nebenan, »Stille Nacht« auf der Flöte. Er nahm erst seit ein paar Wochen Unterricht, und das war das einzige Lied, das er schon spielen konnte. Nach der Hälfte, ungefähr bei »alles schläft«, verspielte er sich und zischte: »Scheiße!«, was wohl darauf zurückzuführen war, dass Wuschel einen älteren Bruder hatte, der viel und gerne fluchte. Sämtliche Kinder drehten sich sofort zu Libby und Mrs. Stewart um, damit sie deren Reaktion einschätzen konnten. Clara merkte, dass ihre Mutter sich das Lachen verkneifen musste, und Mrs. Stewart sagte schulterzuckend: »Pah! Wenn man nicht einmal an einem Tag wie heute Scheiße sagen kann, wann denn sonst?«
Den Kindern klappte die Kinnlade herunter, und Hazel schlug ungläubig beide Hände vor den Mund.
Libby prustete nun doch los. »Sie hat recht!«, sagte sie dann betont ernst. »Aber trotzdem lassen wir es uns nicht zur Gewohnheit werden, dieses schreckl…« Sie musste so sehr lachen, dass sie den Satz nicht zu Ende sprechen konnte.
Und keine Nanosekunde später hielten sich alle gackernd die Bäuche.
Als Clara beim Leichenschmaus auf Libbys Schoß saß, die Glasur von einem Schokoladentörtchen schleckte und über das Universum nachdachte, fragte sie ihre Mutter, ob Schweinebraten nun bei ihrem Papa im Himmel sei. Ihr Vater, James Black, war keinen Tag in seinem Leben krank gewesen, als ihn mit fünfunddreißig ein Herzinfarkt dahinraffte und er Libby mit zwei Kleinkindern allein zurückließ. Leo behauptete, er könne sich noch an ihn erinnern, aber Leo behauptete auch, er könnte fliegen und im Dunkeln sehen. Clara hatte keine Erinnerung mehr an ihren Vater, aber eine ihrer liebsten Habseligkeiten war ein kleines gerahmtes Foto, das sie und ihren Vater zeigte, wie sie gemeinsam in einer Hängematte ein Nickerchen hielten, als sie noch ein winziger Säugling war. Es hatte immer auf Libbys Klavier im Musikzimmer gestanden – also in dem Raum, der in den meisten Häusern als Wohnzimmer bezeichnet wurde –, zusammen mit einer ganzen Sammlung von Familienfotos. Doch eines Abends, als Clara ziemlich niedergeschlagen war, brachte ihre Mutter das Bild herauf in ihr Zimmer, damit es ihr Gesellschaft leisten konnte. Auf Libbys Wunsch hin war es seither Claras Foto. »Um deine Frage zu beantworten«, sagte Libby und biss von Claras Schokotörtchen ab, »ich glaube, Schweinebraten ist wirklich bei Papa, und ich glaube, dass die beiden es richtig gut miteinander haben.«
»Ich auch«, pflichtete ihr Clara bei.
»Ich denke, wir hätten Schweinebraten keinen schöneren Abschied bereiten können.«
»Stimmt«, sagte Clara grinsend.
* * *
Tatsächlich war es so eine schöne Beerdigung, dass über Jahrzehnte an ihr alle folgenden Beerdigungen gemessen wurden. Und achtundzwanzig Jahre später war dies die Erinnerung, die Clara in den Sinn kam, als sie von einem ernst dreinblickenden Polizisten davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass Sebastian tot war.
November
1
»Das ist doch lächerlich. Wir sitzen jetzt geschlagene zehn Minuten hier rum. Irgendwann musst du aus dem Auto aussteigen«, sagte Leo zu Clara. Er musterte sie, wie sie zusammengesackt auf dem Beifahrersitz seines Jeeps hing und ins Leere starrte. »Du bist doch wohl nicht den ganzen weiten Weg von Boston hergeflogen, um dann hier in Libbys verschneiter Einfahrt rumzuhocken.«
»Ich weiß. Ich weiß …« Clara zitterte, als sie sich ihren Wollschal über den Mund zog. »Bitte«, sie schloss die Augen und stieß einen schweren Seufzer aus.
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