Die Liste der vergessenen Wünsche: Roman (German Edition)
Liebling …« Sie stand mit offenem Mund da. »Das ist doch der Pyjama, den wir neulich auf unserem Spaziergang gesehen haben. Dass du dich daran erinnert hast!«
»Na komm, ich erinnere mich doch an alles, was du mir sagst«, erwiderte Sebastian verlegen. Und das stimmte sogar. Wenn Clara etwas sagte, hörte er ihr wirklich zu. Ganz am Anfang ihrer Beziehung, als sie noch dabei waren, sich kennenzulernen, hatte Clara ihm erzählt, dass ihr Lieblingsdichter Walt Whitman war. Monate später kehrte Sebastian von einer Reflexzonenmassagen-Tagung in New York mit einer Überraschung für sie zurück, und zwar einer Erstausgabe von Whitmans Gedichtband »Leaves of Grass«, von der es weltweit insgesamt nur achthundert Exemplare gibt. Als sie dieses Kleinod entgegennahm, war Clara zu überwältigt gewesen, um etwas zum Dank zu sagen, aber die Tränen in ihren Augen zeigten ihm, wie viel ihr dieses Geschenk bedeutete. Der Einband war beschädigt, ein paar Seiten fehlten ganz, und das Buch roch nach Kohlsuppe, aber die Tatsache, dass Sebastian es ihr geschenkt hatte, machte es für sie noch wertvoller. Seine ungekünstelte Aufmerksamkeit war wirklich etwas, das sie nicht für selbstverständlich nahm. Sie wusste verdammt gut, dass ihr Verlobter etwas ganz Besonderes war. Und sie wusste ohne auch nur den Hauch eines Zweifels, dass sie die glücklichste Frau der Welt war.
»Der ist vielleicht weich!«, sagte Clara, als sie mit den Fingern über den Flanellstoff strich. »Ich finde ihn toll. Danke, Schatz!«
»Gern geschehen. Ich hoffe, ich habe die richtige Größe erwischt.«
Clara warf ihm ihr verführerischstes Lächeln zu. »Hmm … Wie wär’s, wenn ich ihn anprobiere?« Dann nahm sie seine Hand und zog ihn in Richtung Treppe, wobei sie mit rauer, verführerischer Stimme hinzufügte: »Dann kannst du ihn mir auch gleich wieder ausziehen.«
»Bevor ich mich schlagen lasse«, Sebastian gab ihr einen spielerischen Klaps auf den Hintern, bevor er sie die Treppe hinaufjagte.
* * *
»Liebe Trauergäste, dürfte ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?« Leo, der Bestatter, hob in der schwülen Nachmittagssonne den Arm, um die Aufmerksamkeit der sich leise unterhaltenden Menge zu gewinnen. Er räusperte sich und wartete, bis Ruhe eingetreten war. »Im Namen meiner kleinen Schwester Clara möchte ich Ihnen allen für Ihr heutiges Erscheinen danken und Sie einladen, sich nun um das Grab zu versammeln. Die Beerdigungszeremonie wird gleich beginnen«, verkündete er in kontrolliertem, feierlichem Ton, den er zuvor geübt hatte, indem er ihn morgens vor dem Badezimmerspiegel in eine Haarbürste gesprochen hatte. Dann, als würde in seinem Kopf eine imaginäre Glühbirne angehen, fügte er rasch hinzu: »Oh, und bitte steigen Sie nicht auf Salatköpfe oder Tomaten. Vorsicht, Gemüse!« Er blickte zu seiner Mutter Libby hinüber, die ihn an diesem Morgen mehrmals daran erinnert hatte, er möge die Gäste ermahnen, bloß nicht überall in ihrem Garten herumzutrampeln.
Mit einem Augenzwinkern hob Libby ermutigend den Daumen ihrer freien Hand. Mit der anderen hielt sie Claras Linke.
Am Nachmittag des Vortags hatte Clara, als sie von der Ballettstunde kam, Leo mit vor der Brust verschränkten Armen und finsterem Gesicht an der offenen Haustür vorgefunden. Er schien auf sie gewartet zu haben. Und er sah nicht gerade fröhlich aus.
»Komm mit, du kleiner Hosenscheißer, wir setzen uns mal hin«, forderte Leo sie in merkwürdigem Ton auf.
Clara folgte ihrem Bruder in seine Bude und ließ sich aufs Sofa fallen. Obwohl jede Menge Platz war, setzte er sich direkt neben sie.
»Hör mal, Clara …«, er räusperte sich und schluckte schwer, »… ähm, also während du im Kindergarten warst, ist etwas ganz Schlimmes passiert.« Er schaute weg, aber Clara bemerkte die Traurigkeit in seinen smaragdgrünen Augen. Dann atmete er tief durch, wandte sich ihr wieder zu und sagte sanft: »Schweinebraten … Er ist gestorben.«
Für Clara blieb die Zeit stehen.
Sie konnte nicht sprechen.
Sie konnte kaum atmen.
»Ich weiß, dass er deiner war und wie lieb du ihn gehabt hast. So wie wir alle «, versicherte ihr Leo mit der Einfühlsamkeit eines weisen Erwachsenen, obwohl er ein achtjähriger Junge war, der vor ein paar Tagen noch seine Hand an der Wand festgeklebt hatte, um zu testen, wie gut Alleskleber wirklich ist. »Aber Schweinebraten war schon ein sehr, sehr alter Kater, Clara, und er ist einfach …« Leos Stimme brach. »Er ist … von
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