Die Liste der vergessenen Wünsche: Roman (German Edition)
seinem Nickerchen heute einfach nicht mehr aufgewacht.«
Dicke Tränen rannen Clara über die Wangen, und sie spürte einen brennenden Schmerz, der schlimmer war als alles, was sie mit ihren sechs Jahren bisher erlebt hatte – sogar schlimmer als der damals, als sie Natalie Marissa, ihrer allerliebsten Lieblingspuppe, einen grässlich schiefen Haarschnitt verpasst hatte, nur um dann zu merken, dass orangefarbenes Wollhaar nicht mehr nachwächst.
»Es tut mir wirklich leid.« Leo wischte sich schnell über die nassen Augen.
Wie Clara in ihrem Trikot und dem Tutu dasaß und unkontrolliert schluchzte, meinte sie kurz, sie hätte Libby den Kopf durch die Tür stecken sehen, aber falls es so war, dann hatte sie wohl beschlossen, sich lieber nicht einzumischen, und war gleich wieder verschwunden.
Clara und ihr Bruder blieben so lange auf der Couch sitzen, wie sie weinte, und ihr kam es wie eine sehr lange Zeit vor. Leo legte den Arm fest um ihre Schultern und sagte nichts weiter.
Denn es brauchte keine weiteren Worte.
»Ich hab dir doch gesagt, dass man auf einer Beerdigung nicht pupsen darf! Böser Hund! «, schimpfte Claras Freundin mit Mötley Crüe, ihrer Dänischen Dogge.
»Macht nichts, Hazel«, beruhigte Leo sie. »In Anbetracht der heute hier Versammelten wird der alte Mötley wohl nicht der Einzige sein, der sich danebenbenimmt.«
Früher an diesem Samstagmorgen, noch bevor Clara aufgewacht war (und ohne die Erlaubnis seiner Mutter), hatte Leo im Garten neben Libbys Tomatenstauden ein Loch ausgehoben und einen Gedenkgottesdienst für den späten Nachmittag organisiert. Die meisten ihrer Freunde aus der Nachbarschaft hatten Haustiere, und als Leo an eine Tür nach der anderen klopfte und die traurige Nachricht von Schweinebratens Ableben überbrachte, betonte er extra, dass bei der Zeremonie sowohl Menschen als auch Tiere willkommen seien.
Leo bestand darauf, dass er zu Schweinebratens Beerdigung seinen besten (und einzigen) Anzug trug. Infolge eines Saftunfalls, bei dem ihr marineblaues Kleid in Mitleidenschaft gezogen wurde, beschränkten sich Claras Auswahlmöglichkeiten, was dunkle Bekleidung betraf, auf einen schwarzen Badeanzug und ein Sensenmannkostüm (inklusive Sense) vom letzten Halloween – was dem Anlass jedoch nicht gerade angemessen war. Also entschied sie sich für den Badeanzug. Als sie merkte, dass auch Natalie Marissa nichts Angemessenes zum Anziehen hatte, wurde sie kurz panisch, aber Libby rettete wie immer die Situation, indem sie ihr aus einer schwarzen Plastiktüte schnell ein einfaches Kleid im Togastil fertigte. Libby beteuerte außerdem, dass es bei einem solchen Anlass durchaus üblich sei, seinen Kopf zu bedecken, und bot an, auch noch einen praktischen Hut für Claras Puppe mit den verschnittenen Haaren zu zaubern. Aber angesichts einer wahren Tragödie wie dieser kümmerte Clara ein schlechter Haarschnitt herzlich wenig.
Schweinebratens Beerdigung wohnten fünf Jungen, sechs Mädchen, zwei Erwachsene, vier Hunde, drei Katzen, eineinhalb Kaninchen (Ernestine war trächtig) bei. Die ersten Trauergäste, die erschienen, waren Hazel und Mötley Crüe. Sie wurden von Leo in Empfang genommen. Er nahm ihr das Tablett mit den Sellerie-Rosinen-Häppchen ab, die Hazel ganz allein gemacht hatte, und stellte es zwischen das Kondolenzbuch und die Platte mit Cupcakes, die Libby gebacken hatte, auf den Picknicktisch.
»Ich hab sie mit extra vielen Rosinen gemacht, so wie du es magst«, sagte Hazel und lächelte Clara an. Dann drückte sie ihr die Hand und fügte sanft hinzu: »Schöner Badeanzug.«
Makiko vom anderen Ende der Straße – in Begleitung ihrer Wüstenrennmaus Barnabas – trug einen prunkvollen türkisen Kimono. Clara spürte, wie sich wieder ein Kloß in ihrem Hals bildete, als sie behutsam Barnabas’ hellbraunes Fell streichelte. »Weißt du, es ist okay, wenn du traurig bist oder weinen musst«, sagte Makiko. »Sterben ist schrecklich. Hier …« Sie hielt Clara einen ihrer luftigen Kimonoärmel hin.
»Oh, nicht doch!«, mischte sich Mrs. Stewart ein, die nette grauhaarige Dame von gegenüber, die keine eigenen Enkelkinder hatte und deshalb mehr oder weniger alle Kinder der Nachbarschaft adoptiert hatte. »Nimm lieber das«, sagte sie und reichte Clara ein Taschentuch. Dann nahm sie Clara ganz fest in den Arm und flüsterte: »Es tut mir ja so leid, Clara Black.«
Libby versuchte, den Kindern so wenig wie möglich in die Quere zu kommen, aber jedes Mal, wenn Clara in
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