Die Liste
schwieg, bedankte ich mich und sagte, ich würde sie gern treffen und mit ihr über ihre bemerkenswerte Familie reden. Sie fühlte sich geschmeichelt und bestand darauf, dass ich zum Mittagessen vorbeikommen sollte.
Damit begann eine ungewöhnliche Freundschaft, die mir 84
für viele Dinge die Augen öffnen sollte, nicht zuletzt für die Qualitäten der Küche des tiefen Südens.
Als meine Mutter starb, war ich dreizehn Jahre alt. Sie litt an Magersucht, und nur vier Leute waren nötig, um ihren Sarg zu tragen. Sie wog keine vierzig Kilogramm mehr und wirkte wie ein Geist. Aber die Magersucht war nur eines ihrer vielen Probleme.
Weil sie nicht aß, kochte sie auch nicht. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie jemals eine richtige, warme Mahlzeit für mich zubereitet hätte. Zum Frühstück gab es eine Schüssel Cornflakes, mittags ein kaltes Sandwich, abends Tiefkühlkost, die ich gewöhnlich allein vor dem Fernseher hinunterschlang. Ich war ein Einzelkind. Mein Vater war nie zu Hause, was ich aber nicht weiter schlimm fand, da seine Anwesenheit ohnehin nur Spannungen zwischen meinen Eltern zur Folge hatte. Er aß gern, sie nicht. Sie stritten sich wegen jeder Kleinigkeit.
Aber ich litt nie Hunger; in der Speisekammer gab es immer jede Menge Erdnussbutter, Haferflocken und so weiter. Gelegentlich aß ich bei einem Freund, wo ich mich stets wunderte, wie in richtigen Familien gekocht wurde und wie viel Zeit man dort am Esstisch verbrachte. In unserem Haushalt war das Essen einfach nicht wichtig.
Als Teenager lebte ich von Tiefkühlkost, als Student in Syracuse von Bier und Pizza . Während der ersten dreiundzwanzig Jahre meines Lebens hatte ich nur gegessen, wenn ich hungrig war. In Clanton sollte ich erfahren, dass das ein Fehler gewesen war. Im Süden hatte Nahrungsaufnahme nur wenig mit Hunger zu tun.
Die Ruffins wohnten in einer der angenehmeren Gegenden von Lowtown, in einer Straße mit ordentlich erhaltenen 85
und gestrichenen einfachen Häusern, die traditionell von der armen schwarzen Bevölkerung bewohnt wurden. Die Hausnummern standen auf den Briefkästen. Ich bremste und blickte lächelnd auf einen weißen Lattenzaun und Blumen – Pfingstrosen und Schwertlilien. Es war Anfang April, und ich hatte das Verdeck meines Spitfire geöffnet.
Als ich den Motor abstellte, stieg mir ein köstlicher Duft in die Nase. Schweinekoteletts!
Calia Ruffin erwartete mich an dem niedrigen Gartentor, hinter dem sich ein makelloser Rasen erstreckte. Sie war eine dicke, kräftige Frau mit breiten Schultern, einem stämmigen Oberkörper und dem festen Händedruck eines Mannes. Sie hatte graues Haar und wirkte auch sonst wie eine Frau, die sehr viele Kinder großgezogen hatte, doch wenn sie lächelte, was sie häufig tat, ließen ihre strahlend weißen, ebenmäßigen Zähne die ganze Welt in einem helleren Licht erscheinen. Noch nie zuvor hatte ich so schöne Zähne gesehen.
»Ich bin froh, dass Sie gekommen sind«, sagte sie, während wir über den Plattenweg auf das Haus zugingen.
Ich fühlte mich großartig. Es war Mittag, und ich hatte wie üblich noch nichts gegessen. Der Duft, der mir von der Veranda her entgegenschlug, ließ mir das Wasser im Munde zusammenlaufen.
»Ein schönes Haus«, sagte ich, während ich die Vorderfront inspizierte, die mit strahlend weißen Schindeln eingekleidet war und den Eindruck hinterließ, dass hier regelmäßig jemand mit einem Farbeimer und einem Pinsel aktiv sein musste. Über die gesamte Breite des Hauses verlief ein grüne gestrichene Veranda mit einem Blechdach.
»Danke. Es gehört uns seit dreißig Jahren.«
Ich wusste, dass die meisten Häuser in Lowtown 86
raffgierigen Weißen gehörten, die auf der anderen Seite der Schienen wohnten und abbruchreife Gebäude zu Wucherpreisen vermieteten. Im Jahr 1970 war es ungewöhnlich, dass Schwarze ein eigenes Haus besaßen.
»Wer ist Ihr Gärtner?« Ich blieb stehen und roch an einer gelben Rose. Überall Blumen – zu beiden Seiten des Weges, entlang der Veranda, an den Grenzen zu den Nachbargrundstücken.
»Das mache ich selbst«, sagte sie lächelnd, wobei sie erneut ihre makellosen Zähne entblößte, die im Sonnenlicht funkelten.
Wir stiegen die Stufen zur Veranda hoch, und da war es, das fürstliche Mahl. Neben dem Geländer war ein kleiner Tisch für zwei Personen gedeckt – mit weißem Tischtuch, weißen Servietten, Blumen in einer Vase, einer Kanne mit Eistee und mindestens vier bedeckten
Weitere Kostenlose Bücher