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Die Liste

Die Liste

Titel: Die Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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und Zuhälter von 92

    uns fern hält. In dieser Hinsicht hat Mr Coley gute Arbeit geleistet.«
    »Darf ich Sie was fragen?«
    »Natürlich. Sie sind Journalist.«
    »Sie sprechen ungewöhnlich deutlich und drücken sich sehr gewählt aus. Was hatten Sie für eine Schulbildung?«
    In einer Gesellschaft, in der Bildung während vieler Jahrzehnte keine bedeutende Rolle gespielt hatte, begab man sich mit so einer Frage auf unsicheres Terrain. Im Jahr 1970 hatte Mississippi immer noch keine öffentlichen Kindergärten und keine gesetzlich geregelte Schulpflicht.
    Sie lachte und ließ mich wieder ihre Zähne sehen. »Ich habe die Schule nach der neunten Klasse verlassen, Mr Traynor.«
    »Nach der neunten Klasse?«
    »Ja, aber die Situation war außergewöhnlich. Ich hatte eine wundervolle Privatlehrerin. Doch auch das ist eine lange Geschichte.«
    Allmählich begann mir zu dämmern, dass die wundervollen Geschichten, die Miss Callie mir verhieß, wahrscheinlich nur im Verlauf von Monaten oder sogar Jahren erzählt werden konnten. Vielleicht würde es sich auf dieser Veranda so ergeben, bei einem wöchentlichen Festmahl.
    »Wir sollten uns das für später aufheben«, sagte sie.
    »Wie geht es Mr Caudle?«
    »Nicht gut. Er will das Haus nicht mehr verlassen.«
    »Ein anständiger Mann. Die schwarze Bevölkerung wird ihn immer sehr schätzen, weil er so viel Mut bewiesen hat.«
    Ich musste daran denken, dass Spots »Mut« weniger mit seinem Sinn für Gerechtigkeit zu tun gehabt hatte als 93

    vielmehr damit, dass er mehr Nachrufe schreiben wollte.
    Mittlerweile hatte ich erfahren, wie wichtig das Sterben für Schwarze war – das Ritual der Totenwache, die häufig eine Woche dauerte, die nicht enden wollenden Trauergottesdienste am offenen Sarg mit vielen Klagen, die endlosen Beerdigungsprozessionen und schließlich der emotionsgeladene letzte Abschied. Als Spot die Seite mit den Nachrufen für die Schwarzen geöffnet hatte, war er in Lowtown zum Helden geworden.
    »Ja, ein anständiger Mann.« Ich lud das dritte Schweinekotelett auf meinen Teller. Allmählich begann mir mein Magen ein bisschen wehzutun – doch es stand immer noch so viel auf dem Tisch!
    »Sie machen ihm alle Ehre mit Ihren Nachrufen«, sagte Miss Callie mit einem herzlichen Lächeln.
    »Danke. Ich lerne noch dazu.«
    »Auch Sie haben Mut, Mr Traynor.«
    »Möchten Sie mich nicht Willie nennen? Ich bin erst dreiundzwanzig.«
    »Mir ist Mr Traynor lieber.« Damit war das Thema vom Tisch. Es sollte vier Jahre dauern, bevor sie sich überwand und mich beim Vornamen nannte. »Sie haben keine Angst vor den Padgitts.«
    Das war mir neu. »Gehört zu meinem Job.«
    »Rechnen Sie damit, dass die Einschüchterungsversuche weitergehen?«
    »Wahrscheinlich schon. Sie sind daran gewöhnt, zu bekommen, was sie wollen. Das sind brutale, skrupellose Leute, aber eine freie Presse wird es auch weiterhin geben müssen.« Wem wollte ich da etwas vormachen? Noch eine Bombe oder ein weiterer Überfall, und ich würde vor dem nächsten Sonnenaufgang in Memphis sein.
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    Miss Callie aß nicht mehr und blickte tief in Gedanken versunken zur Straße hinüber. Was mich natürlich nicht davon abhielt, weiter kräftig zuzulangen.
    »Die armen Kinder«, sagte sie schließlich. »Dass sie ihre Mutter in dieser furchtbaren Situation sehen mussten.«
    Dieses Bild veranlasste mich nun doch, das Besteck auf den Tisch zu legen. Ich wischte mir den Mund ab, atmete tief durch und lehnte mich zurück. Es blieb der Einbildungskraft jedes Einzelnen überlassen, sich das entsetzliche Verbrechen auszumalen, und seit Tagen wurde in Clanton über kaum etwas anderes getuschelt.
    Wie stets in solchen Fällen verstärkten sich das Getuschel und die Gerüchte. Bald waren verschiedene Versionen im Umlauf, die durch die ständige Weitergabe auch immer lauter wurden. Ich war neugierig, wie diese Storys in Lowtown ausfielen.
    »Am Telefon haben Sie gesagt, Sie lesen die Times seit fünfzig Jahren«, sagte ich.
    »Stimmt.«
    »Können Sie sich an ein brutaleres Verbrechen erinnern?«
    Sie ließ die Jahrzehnte Revue passieren und schüttelte schließlich langsam den Kopf. »Nein.«
    »Sind Sie je einem Padgitt begegnet?«
    »Nein. Sie bleiben auf ihrer Insel, und das war nie anders. Selbst die für sie arbeitenden Schwarzen bleiben da draußen, brennen Whiskey, praktizieren ihre Voodoo-Riten oder stellen anderes dummes Zeug an.«
    »Voodoo?«
    »Ja, auf dieser Seite der Schienen ist das allgemein bekannt.

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