Die Liste
weinend und fluchend durch die Nacht raste und die Kilometer zählte, bis sie Mississippi endlich hinter sich gelassen hatte. Wer konnte es ihr verdenken?
Unsere dreitägige Romanze endete so abrupt, wie wir 237
beide es erwartet, aber nie ausgesprochen hatten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich unsere Pfade je wieder kreuzten, und selbst wenn, dann würden wir vielleicht ein- oder zweimal miteinander ins Bett hüpfen, bevor uns das Leben wieder auseinander führte. Sie würde noch viele Männer verschleißen, bevor sie einen für immer fand. Ich saß auf dem Balkon vor meinem Büro und wartete darauf, dass sie unten vorfuhr, obwohl ich wusste, dass sie inzwischen wahrscheinlich in Arkansas war. Wir hatten den Tag gemeinsam im Bett begonnen und es nicht erwarten können, zum Gericht zu kommen, um zu sehen, wie der Mörder ihrer Schwester zum Tode verurteilt wurde.
In der Hitze des Augenblicks fing ich an, einen Leitartikel über das Urteil zu schreiben, der zu einem vernich-tenden Angriff auf das Strafrecht des Bundesstaates werden sollte. Meine Worte waren ehrlich und kamen aus ganzem Herzen, und dem Publikum würden sie auch gefallen.
Ein Anruf von Esau unterbrach mich. Er war mit Miss Callie im Krankenhaus und bat mich, schnell zu kommen.
Sie war ohnmächtig geworden, als sie vor dem Gericht ins Auto gestiegen war. Esau und ihre drei Söhne hatten sie eilig ins Krankenhaus gefahren, was sich als die richtige Entscheidung erwiesen hatte. Ihr Blutdruck war gefährlich hoch, der Arzt befürchtete einen Schlaganfall.
Nach ein paar Stunden hatte sich ihr Zustand jedoch stabilisiert, und die Prognose war günstig. Ich hielt ihre Hand und sagte, ich sei stolz auf sie. Dabei wollte ich unbedingt wissen, was sich im Geschworenenzimmer abgespielt hatte.
Doch das sollte ich nicht erfahren.
Ich trank bis Mitternacht mit Al, Max, Bobby und Esau 238
in der Krankenhauskantine Kaffee. Miss Callie hatte nicht ein Wort über die Beratungen der Geschworenen gesagt.
Wir sprachen über die Ruffin-Söhne und ihre Geschwister, deren Kinder und Berufe und über ihre eigene Kindheit und Jugend in Clanton. Eine Geschichte folgte auf die andere, und fast hätte ich Stift und Notizblock gezückt.
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ährend meiner ersten sechs Monate in Clanton W verließ ich am Wochenende normalerweise fluchtartig die Stadt. Es gab dort kaum etwas zu tun. Bis auf eine gelegentliche Einladung, wenn Harry Rex eine Ziege grillte, und eine langweilige Cocktailparty existierte kein gesellschaftliches Leben. Praktisch alle jungen Leute in meinem Alter waren verheiratet, und wenn die es richtig knallen lassen wollten, gingen sie zu einem Eiscreme-
»Abendessen« in eine der zahllosen Kirchen der Stadt.
Wer eine auswärtige Universität besucht hatte, kam meistens nicht mehr zurück.
Aus Langeweile verbrachte ich die Wochenenden gelegentlich in Memphis, normalerweise in der Wohnung eines Freundes, auf jeden Fall so gut wie nie zu Hause.
Mehrfach fuhr ich nach New Orleans, wo eine alte Freundin aus meiner Highschool-Zeit wohnte und das Partyleben genoss. Aber meine Zukunft für die nächsten Jahre war die Times. Ich war ein Bürger Clantons und musste lernen, mit dem Kleinstadtleben zurechtzukom-men, langweilige Wochenenden eingeschlossen. Das Büro wurde meine Zuflucht.
Am Samstag nach dem Urteil ging ich gegen Mittag dorthin. Ich wollte mehrere Artikel über den Prozess schreiben, und mein Leitartikel war auch noch längst nicht fertig. Auf dem Fußboden direkt hinter der Tür lagen sieben Briefe – eine langjährige Tradition der Times.
Wenn Spot einmal etwas geschrieben hatte, das eine Reaktion der Leser auslöste – was höchst selten vorkam –, war der Leserbrief häufig persönlich abgegeben oder unter der Tür durchgeschoben worden.
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Vier der Briefe waren unterzeichnet, drei anonym. Zwei waren mit der Maschine geschrieben, die übrigen mit der Hand, wobei ich einen kaum lesen konnte. Alle sieben verliehen ihrer Empörung darüber Ausdruck, dass Danny Padgitt mit dem Leben davongekommen war. Der Blutdurst der Stadt überraschte mich nicht, aber ich fand es bestürzend, dass sechs der sieben Schreiber Miss Callie erwähnten. Der erste Brief war mit der Maschine geschrieben und nicht unterzeichnet: Sehr geehrte Redaktion, unsere Gemeinde bat ein neues Tief erreicht, wenn Verbrecher wie Danny Padgitt mit Vergewaltigung und Mord davonkommen.
Dass eine Negerin unter den Geschworenen war, zeigt uns, dass diese Leute nicht
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