Die Liste
Als Kind hatte es überhaupt nie Probleme mit ihm gegeben, er hatte ihr nur Freude bereitet. Seine älteren Brüder hatten ständig etwas ausgeheckt, aber nicht Danny.
Ihre Aussage war so dumm und die Absicht so offenkundig, dass es geradezu lächerlich wirkte. Aber unter den Geschworenen waren drei Mütter – Miss Callie, Mrs Barbara Baldwin und Maxine Root –, und auf eine von ihnen hatte Wilbanks es abgesehen. Er brauchte nur eine einzige.
Mrs Padgitt brach bald in Tränen aus, was nicht weiter verwunderlich war. Sie könne nicht glauben, dass ihr Sohn ein solch entsetzliches Verbrechen begangen habe, aber wenn die Geschworenen es sagten, werde sie versuchen, das zu akzeptieren. Doch warum mussten sie ihn ihr wegnehmen? Warum mussten sie ihren kleinen Jungen töten? Was hatte die Welt davon, wenn er umgebracht wurde?
Ihr Schmerz war echt. Es war schwer zu ertragen, ihre Gefühle so entblößt zu sehen. Jedes menschliche Wesen musste Mitgefühl für eine Mutter empfinden, die ein Kind verlieren sollte. Schließlich brach sie zusammen, und Wilbanks ließ sie schluchzend auf der Zeugenbank sitzen.
Was als gestelltes Theater begonnen hatte, endete in einem herzzerreißenden Flehen, angesichts dessen die meisten Geschworenen den Blick senkten und auf den Boden starrten.
232
Wilbanks sagte, er habe keine weiteren Zeugen.
Nachdem er und Gaddis kurze Schlussplädoyers gehalten hatten, wurde der Fall noch vor elf Uhr erneut den Geschworenen übergeben.
Ginger verschwand in der Menge. Ich wartete in meinem Büro auf sie. Als sie nicht erschien, ging ich zur Kanzlei von Harry Rex auf der anderen Seite des Clanton Square.
Er ließ seine Sekretärin Sandwichs holen, die wir in seinem überfüllten Besprechungszimmer aßen. Wie die meisten Anwälte in Clanton hatte er die gesamte Woche im Sitzungssaal verbracht und einen Prozess beobachtet, der ihm finanziell nichts einbrachte.
»Wird Ihre Freundin umfallen?«, erkundigte er sich, den Mund voller Putenfleisch und Schweizer Käse.
»Miss Callie?«, fragte ich.
»Ja. Ist sie mit der Gaskammer einverstanden?«
»Keine Ahnung, darüber haben wir nicht gesprochen.«
»Wir glauben alle, dass sie und der verkrüppelte Junge die unsichersten Kandidaten sind.«
Harry Rex hatte sich hinter den Kulissen so in dem Fall engagiert, dass man hätte denken können, er arbeite für Ernie Gaddis und die Staatsanwaltschaft. Aber er war nicht der einzige Anwalt der Stadt, der die Anklage insgeheim unterstützte.
»Über den Schuldspruch waren sie sich innerhalb von sechzig Minuten einig«, gab ich zu bedenken. »Ist das kein gutes Zeichen?«
»Vielleicht, aber Geschworene tun seltsame Dinge, wenn sie ein Todesurteil unterzeichnen sollen.«
»Na und? Dann bekommt er eben lebenslänglich. Nach dem, was ich über Parchman gehört habe, ist das Leben 233
dort schlimmer als die Gaskammer.«
»Lebenslänglich heißt nicht lebenslänglich, Willie«, sagte er und wischte sich das Gesicht mit einer Papier-serviette ab.
Ich hielt inne, während er einen weiteren Bissen nahm.
»Was bedeutet lebenslänglich?«, fragte ich.
»Zehn Jahre, vielleicht weniger.«
Ich versuchte, das zu verstehen. »Sie meinen, lebenslänglich bedeutet in Mississippi zehn Jahre?«
»Sie haben es erfasst. Ein zu lebenslänglich verurteilter Mörder kann nach zehn Jahren – bei guter Führung auch weniger – auf Bewährung entlassen werden. Verrückt, finden Sie nicht?«
»Aber warum …«
»Versuchen Sie nicht, es zu verstehen, Willie, so ist das Gesetz. Schon seit fünfzig Jahren. Das Schlimmste ist, dass die Geschworenen das nicht wissen und niemand es ihnen sagen darf. Etwas Krautsalat?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Unser ehrenwertes Oberstes Gericht hat entschieden, dass Geschworene, die wissen, wie kurz lebenslänglich in Wirklichkeit ist, eher die Todesstrafe verhängen könnten.
Das wäre unfair gegenüber dem Angeklagten.«
»Lebenslänglich bedeutet zehn Jahre«, murmelte ich vor mich hin. In Mississippi waren die Wein- und Spirituosen-handlungen an Wahltagen geschlossen, als hätten sich die Wähler betrinken und deswegen die Falschen wählen können. Auch ein unglaubliches Gesetz.
»Sie haben’s erfasst«, sagte Harry Rex, bevor er sein Sandwich mit einem letzten großen Bissen verschwinden ließ. Er nahm einen Umschlag von einem Regalbrett, öffnete ihn und schob mir ein großes Schwarzweißfoto 234
hin.
»Erwischt, Kumpel«, sagte er lachend.
Es war ein Foto von mir, wie ich am
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