Die Liste
in der Bibel.
Als sie mich sah, schenkte sie mir ein strahlendes Lächeln.
»Mr Traynor, nett, dass Sie gekommen sind. Setzen Sie sich. Esau, hol Mr Traynor Tee.« Wie immer sprang Esau, wenn sie Anweisungen erteilte.
Ich saß auf einem harten Holzstuhl neben ihrem Bett.
Auf mich wirkte sie nicht im Geringsten krank. »Ich mache mir große Sorgen wegen des Mittagessens nächsten Donnerstag«, fing ich an. Wir mussten beide lachen.
»Ich koche etwas«, sagte sie.
»Das tun Sie nicht. Ich habe einen besseren Vorschlag.
Ich bringe etwas zu essen mit.«
»Ob das eine gute Idee ist?«
»Ich kaufe es irgendwo. Etwas Leichtes, ein Sandwich oder so.«
»Sandwich klingt gut«, sagte sie und tätschelte mir das Knie. »Meine Tomaten sind bald reif.« Sie hielt inne und wandte für einen Moment den Blick ab. »Wir haben keine gute Arbeit geleistet, nicht wahr, Mr Traynor?« Ihre Worte klangen traurig und deprimiert.
»Das Urteil ist nicht gerade populär.«
»Es war nicht das, was ich wollte«, sagte sie.
Mehr sollte ich über die Beratungen lange Jahre nicht von ihr erfahren. Esau erzählte später, dass die übrigen elf 244
Geschworenen auf die Bibel geschworen hätten, nicht über ihre Entscheidung zu sprechen. Miss Callie habe sich geweigert, auf die Bibel zu schwören, aber ihr Wort gegeben, dass sie das Geheimnis wahren werde.
Ich ließ sie allein, damit sie sich ausruhen konnte, und trat auf die Veranda, wo ich Stunden damit verbrachte, Miss Callies Gästen und Söhnen zuzuhören, die über Gott und die Welt sprachen. Ich saß in einer Ecke, trank Tee und versuchte, mich aus ihren Gesprächen herauszuhalten.
Manchmal geriet ich ins Träumen und lauschte auf die Geräusche des Lowtowner Samstagabends.
Der Reverend und der Diakon gingen schließlich, und die Familie war, abgesehen von mir, unter sich. Das Gespräch kam auf den Prozess und das Urteil und darauf, wie es auf der anderen Seite der Schienen aufgenommen wurde.
»Hat er die Geschworenen wirklich bedroht?«, fragte Max mich. Ich erzählte die Geschichte, wobei Esau mich unterstützte, wenn es nötig war. Alle waren ebenso schockiert wie diejenigen, die dabei gewesen waren.
»Gott sei Dank sitzt er für den Rest seines Lebens hinter Gittern«, meinte Bobby, und ich brachte es nicht übers Herz, ihnen die Wahrheit zu sagen. Sie waren stolz auf ihre Mutter, wie sie es immer gewesen waren.
Mir hing der Prozess inzwischen zum Hals raus. Gegen neun verabschiedete ich mich und fuhr langsam und ziellos durch Lowtown zurück. Ich fühlte mich einsam und vermisste Ginger.
Die Bürger von Clanton schäumten noch tagelang wegen des Urteils. Wir erhielten achtzehn Leserbriefe, von denen ich sechs in der nächsten Ausgabe abdruckte. Die Hälfte von ihnen befasste sich mit dem Urteil, was die Stimmung 245
weiter anheizte.
Während dieses endlosen Sommers fragte ich mich manchmal, ob die Stadt nie aufhören würde, über Danny Padgitt und Rhoda Kassellaw zu reden.
Dann interessierte sich plötzlich niemand mehr für die beiden. Schlagartig, buchstäblich innerhalb von vierundzwanzig Stunden, war der Prozess vergessen.
Die Bürger von Clanton zu beiden Seiten der Bahnlinie hatten etwas viel Wichtigeres gefunden, über das sie sich aufregen konnten.
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TEIL II
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n einer wortgewaltigen Entscheidung, die keinen Raum für Zweifel oder Verzögerungen ließ, ordnete das I
Oberste Gericht das sofortige Ende des dualen Schulsystems an. Keine Hinhaltetaktik, keine Prozesse, keine Versprechungen mehr. Die Rassentrennung wurde unverzüglich aufgehoben. Clanton war ebenso entsetzt wie jede andere Stadt im Süden.
Harry Rex brachte mir die Urteilsbegründung des Gerichts und versuchte, mir deren Feinheiten zu erklären.
Es war nicht weiter schwierig. Jeder Schulbezirk musste unverzüglich einen Plan zur Aufhebung der Rassentrennung umsetzen.
»Das ist gut für Ihre Auflage«, prophezeite er mit der nicht angezündeten Zigarre im Mundwinkel.
Überall in der Stadt wurden in aller Eile Zusammenkünfte organisiert, und ich berichtete über jede einzelne davon. An einem drückend heißen Juliabend fand in der Turnhalle der Highschool eine öffentliche Versammlung statt. Die Tribünen waren überfüllt, und überall auf dem Boden saßen besorgte Eltern. Walter Sullivan, der Anwalt der Times, fungierte auch als Anwalt der Schulbehörde. Er redete am meisten, weil er nicht auf Wählerstimmen angewiesen war. Die Politiker versteckten sich lieber hinter
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