Die Liste
denken wie gesetzestreue weiße Bürger.
Mrs Edith Caravelle aus Beech Hill verlieh ihrer Besorgnis in einer wunderschönen Handschrift Ausdruck: Sehr geehrte Damen und Herren, ich lebe anderthalb Kilometer vom Schauplatz des Mordes entfernt und bin Mutter zweier Teenager. Wie soll ich ihnen dieses Urteil erklären? Die Bibel sagt » Auge um Auge « .
Anscheinend gilt das nicht in Ford County.
In einem weiteren anonymen Brief auf parfümiertem rosafarbenem Papier mit Blumenrand hieß es: Sehr geehrter Herr, nun sehen Sie, was passiert, wenn Schwarze in verantwortlichen Positionen sitzen. Eine reinweiße Jury hätte Padgitt noch im Sitzungssaal 241
gehängt. Jetzt sagt das Oberste Gericht, dass Schwarze unsere Kinder unterrichten, Polizisten werden und öffentliche Ämter übernehmen sollen. Gott stehe uns bei.
Als Chefredakteur (und Eigentümer und Herausgeber) oblag es allein mir, zu entscheiden, was in der Times gedruckt wurde. Ich konnte Briefe verändern, ignorieren und auswählen, welche ich veröffentlichen wollte. Ging es um umstrittene Fragen und Ereignisse, heizten Leserbriefe Konflikte weiter an und sorgten für Aufregung. Und sie verschafften uns eine hohe Auflage, weil sie nur in der Zeitung gedruckt werden konnten. Sie kosteten nichts und waren für jedermann ein Forum, in dem er herumtönen konnte.
Während ich die erste Welle von Briefen las, beschloss ich, nichts zu drucken, das Miss Callie schaden würde. Es machte mich wütend, dass die Leute annahmen, es wäre ihre Schuld, dass die Geschworenen sich nicht auf das Todesurteil einigen konnten.
Warum wollte die Stadt das unpopuläre Urteil unbedingt der einzigen Schwarzen unter den Geschworenen anhängen? Und das ohne jeden Beweis! Ich schwor mir herauszufinden, was wirklich im Geschworenenzimmer geschehen war. Sofort fiel mir Harry Rex ein. Natürlich würde Baggy am Montag mit seinem üblichen Kater hereintorkeln und so tun, als wüsste er, wie jeder Geschworene gestimmt hatte. Mit größter Wahrscheinlichkeit würde er sich irren. Wenn irgendjemand die Wahrheit herausfinden konnte, war es Harry Rex.
Wiley Meek kam vorbei und erzählte mir, was in der Stadt getratscht wurde. In den Cafés war die Stimmung aufgeheizt. Der Name Padgitt war zum Schimpfwort geworden. Lucien Wilbanks wurde allgemein verachtet, 242
aber das war nichts Neues. Sheriff Coley hätte auch gleich in Rente gehen können, für ihn würden keine fünfzig Wähler mehr stimmen. Zwei Gegenkandidaten hatten bereits ihr Interesse kundgetan, obwohl die Wahl erst in einem halben Jahr stattfand.
Einer Version zufolge hatten elf Geschworene für die Gaskammer gestimmt und einer dagegen. »Wahrscheinlich die Niggerin«, sagte jemand, was die allgemeine Stimmung im Tea Shoppe um sieben an jenem Morgen widerspiegelte. Angeblich hatte ein Deputy, der das Geschworenenzimmer bewachte, einem Bekannten von jemand zugeflüstert, es habe sechs zu sechs gestanden, aber gegen neun Uhr hatten sich die Cafés weithin gegen diese Theorie entschieden. Rund um den Clanton Square wurden an jenem Vormittag zwei Hypothesen lautstark vertreten: Einmal hieß es, Miss Callie habe die Sache vermasselt, weil sie schwarz war, zum anderen wurde behauptet, die Padgitts hätten zwei oder drei Geschworene gekauft, genau wie sie es mit »dieser verlogenen Schlampe« Lydia Vince getan hatten.
Wiley meinte, die zweite Theorie habe mehr Anhänger als die erste, obwohl viele bereit waren, alles zu glauben.
Ich begriff, dass das Geschwätz der Cafés nutzlos war.
Am späten Samstagnachmittag überquerte ich die Eisenbahnschienen und fuhr langsam durch Lowtown. Die Straßen waren voller Menschen. Kinder auf Fahrrädern, improvisierte Basketballspiele, überfüllte Veranden, Musik aus den offenen Türen der Kneipen, lachende Männer vor den Läden. Jeder war draußen und sozusagen dabei, sich für den anstrengenden Samstagabend vorzubereiten.
Die Leute winkten mir zu und starrten mir nach. Offenbar fanden sie mein kleines Auto interessanter als meine helle Haut.
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Auf Miss Callies Veranda drängten sich die Menschen.
Neben Al, Max und Bobby waren auch Reverend Thurston Small und ein gut gekleideter Diakon von seiner Kirche anwesend. Esau war im Haus und kümmerte sich um seine Frau. Sie war am Morgen entlassen worden, musste aber drei Tage lang strenge Bettruhe halten und durfte keinen Finger rühren. Max führte mich nach hinten zu ihrem Schlafzimmer.
Sie saß, auf Kissen gestützt, im Bett und las
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