Die Listensammlerin
Schule geschleppt. «Du wirst unserer Institution alle Ehre machen!», sagten sie, alternativ: «Dass du mal etwas Gutes für die Schule tun würdest!» (seine Lehrer), «Du?» (sein Bruder) und «Ja, er! Er kann nämlich auch was» (seine Mutter), sein Vater hatte ihm auf die Schulter geklopft, mehrmals mit seiner Riesenpranke, sodass es beinahe schmerzte. Er freute sich trotzdem. Seine Kunstlehrerin und die Direktorin hatten zu jedem der ausgeschriebenen Themen ein Bild aus seiner Sammlung ausgesucht, er hatte auf dem Sofa im Direktorium gesessen und zugehört, wie sie «Moskwa im Sommer von der Krymskij-Brücke aus» versus «Der Birkenwald im Herbst» für die Landschaftskategorie debattierten. Jedes Jahr stellten die Juroren im Palast der Pioniere auch ein Schwerpunktthema für die Kunstolympiade, dem sich die Schüler insbesondere zu widmen hatten. Das diesjährige hatte ihn weder begeistert noch betrübt, es ähnelte den Themen seiner Schulaufsätze: «Meine Schule im Raum der sowjetischen Gesellschaft». Die Lehrerin hatte ihm Hilfe angeboten. Grischa wusste nicht, worin ihre Hilfe bestehen könnte – würde sie ihm ein Motiv vorgeben, würde sie seine Hand beim Malen führen, müsste er während des gesamten Malprozesses neben ihr sitzen (sie hatte Mundgeruch)? Er lehnte, so höflich es ihm möglich war, ab. Er hatte vor kurzem etwas über eine Muse gelesen und erklärte, die Muse besuche ihn nur, wenn er allein war, oft nachts. Die Kunstlehrerin war sichtlich beleidigt, aber seine Mutter sprang ihm zu Hilfe, erzählte, dass er oft nachts male (er hatte nicht gewusst, dass sie das wusste, er schluckte). Seine Kunstlehrerin riet ihm an, ehrlich zu malen, also in der Tiefe seiner sowjetischen Pionierseele nach einem Motiv zu suchen.
Das hatte er getan, vier Nächte lang, in der letzten hatte sich die Frau von Nikolaj Petrowitsch über das Licht in der Küche beschwert, was Unsinn war, wie alles, was von ihr kam, weil er die Tür zum Flur immer schloss, sodass sie das Licht in ihrem Zimmer gar nicht stören konnte, weil sie es nur dann sah, wenn sie (drei- bis viermal in der Nacht) zur Toilette ging, aber dann war sie ja eh schon wach. Als sie sich beschwerte, war sein Bild fast fertig, und am nächsten Morgen hatte er es als Erstes seiner Schwester gezeigt. Seinen Eltern noch nicht, weil es morgens immer schnell und hektisch bei ihnen zuging, alle mussten zur Arbeit und zur Schule, aber beide Eltern hatten bis zum Mittag schon davon gehört, weil seine Kunstlehrerin, der er das Bild vorführte, es ihm abgenommen und der Direktorin gezeigt hatte, und Walentina Iwanowna hatte sofort in den Betrieben der Eltern angerufen und ihnen davon berichtet. Seine Bilder wurden bei der Kunstolympiade nicht eingereicht, er würde seiner Schule also doch keine Ehre machen. Sein Vater hatte getan, was er immer tat, wenn er ihn nicht verstand, das, was er auch tat, wenn man nicht gehorchte. Seine Mutter hatte den Kopf geschüttelt, immer und immer wieder, auch wenn sie sich unbeobachtet wähnte. Sie hatte das Bild eigenhändig zerrissen, vor den Augen der Kunstlehrerin, vor den Augen seiner Mitschüler. Walentina Iwanowna hatte mehrere Gespräche in unterschiedlichen Konstellationen angeordnet: mit ihm alleine, mit ihm und seiner Mutter, mit ihm und beiden Eltern (zum ersten Mal in seinem Leben war sein Vater in der Schule gewesen), mit seinen Eltern ohne ihn. Grischa hatte nicht wirklich zugehört, weil er über diesen einen Satz nachdachte, der bei jedem der Gespräche und auch sonst häufig in jenen Tagen fiel: «Du hast falsch gemalt.»
Wie malt man falsch?
Hatte van Gogh richtiger gemalt als Gauguin?
Die Perspektive war falsch, sagten sie auch, und er war sich nicht sicher, welche sie meinten. Die Perspektiven, die er für das Bild verwendet hatte, zum Beispiel die großen und kleinen Lenin-Stalin-Chruschtschow-Köpfe, die wie Luftballons über Hunderten von Schülerköpfen tanzten, die Schüler trugen alle Uniformen, perspektivisch falsche, hatten übergroße rote Halstücher und keine Gesichter, eine ganze Nacht hatte er nur für diese Schüler gebraucht), oder die Perspektive, aus der er heraus gemalt hatte, seine innere Perspektive sozusagen.
Grischa hing nicht arg an dem Bild, er verstand es nur nicht. Seine Großmutter hatte sich, als sie davon hörte, mehrmals bekreuzigt. Früher hatte er immer lachen müssen, wenn seine Großmutter sich bekreuzigte, er hatte sie nachgeahmt – ausnahmsweise nicht, weil er
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