Die Listensammlerin
Nägeln suchen, die seine Mutter ins Mehl legen könnte, damit es nicht schlecht würde. Die Frau von Nikolaj Petrowitsch hatte ihr den Nageltrick beigebracht. Nägel seien angeblich das Einzige, was das Mehl am Leben erhalte. Was er seinem Vater und seinem Bruder schenken könnte, wusste er nicht und dachte auch nicht darüber nach.
Er wollte den Fotoapparat noch einmal ansprechen, aber er wusste nicht, wie. Seine Schwester redete wie oft vor sich hin, jetzt plapperte sie vom Neujahrsfest in der Schule, Väterchen Frost und seine Enkelin Snegurotschka, das Schneemädchen, würden kommen, es würde Lichter und Mandarinen und ein Theaterstück geben, und hatte ihre Mutter ihr nicht letztes Jahr ein neues Kleid für diesen Winter, die diesjährigen Feiertage versprochen? Auf die Mandarinen freute er sich im Übrigen auch, deshalb musste er auch zu diesem Fest gehen, sonst würde er dieses Jahr keine bekommen. Überhaupt konnte er Neujahr als Fest gut leiden: Es gab keine roten Flaggen und keine Hymne wie bei den anderen Festen.
Grischa wollte den Fotoapparat, um das festzuhalten, was er nicht malen oder zeichnen konnte. Gesichter wollte er fotografieren, aber keine Porträts, wie man sie in der Schule machte: Jedes Kind wurde auf einen Stuhl gesetzt, den Kopf musste man leicht nach rechts neigen, lächeln musste man auch, lachen durfte man nicht. Die Zähne, erklärte ihnen die Klassenlehrerin, dürften auf dem Foto nicht zu sehen sein. Seine Großmutter hatte je ein Porträt ihrer Enkel in der Vitrine stehen, und er fand, dass das von ihm dem seines Bruders zum Verwechseln ähnlich sah, obwohl sonst alle sagten, dass sie nicht wie Brüder wirkten (er sah der Mutter ähnlich, sein Bruder dem Vater). Grischa wollte vielmehr die «üblichen» Gesichter festhalten, seine Mutter kopfschüttelnd, mit diesen Falten über den Augenbrauen, die nur beim Kopfschütteln auftauchten; seine Schwester lachend, seinen Bruder gesichtslos (und ein besseres Wort fiel ihm nicht ein), seinen Vater mit der eisernen Miene, obwohl die Augen manchmal auch Zärtlichkeit verrieten. Ja, in einem solchen Moment wollte er seinen Vater festhalten.
Er stocherte in den Kartoffeln herum, da sprach sein Vater die Sache an.
«Und du wünschst dir also einen Fotoapparat? Was willst du denn aufnehmen damit?»
Er blickte freudig überrascht von seinem Teller auf und überlegte kurz. Bevor er etwas Falsches sagte, legte er sich die Antwort lieber zurecht, dass sie so klang, wie sie es hören wollten, und er trotzdem nah an der Wahrheit blieb: «Ich will mich mit Porträtfotografie beschäftigen. Ich würde gerne euch alle, aber auch Oma fotografieren. Und im Sommer auch draußen Bilder machen. Am Fluss vielleicht. Oder in einen Birkenwald fahren. Und natürlich die Sehenswürdigkeiten unserer großartigen Hauptstadt.» Und ja, er hatte keine Ironie in die Worte gelegt. (Er wusste schon, was Ironie war! Er studierte derzeit die Große Sowjetische Enzyklopädie und war beim Buchstaben K angekommen.)
«Aber weißt du denn etwas über das Entwickeln? Was machst du mit den Negativen?», fragte sein Vater. Die Antwort hatte ihm also gefallen.
«Ich weiß, dass man eine Dunkelkammer braucht. Ich habe natürlich keine. Aber ich könnte abends, wenn alle schon schlafen, an den Wochenenden natürlich, im Badezimmer entwickeln, da ist ja kein Fenster. Ich muss die Bilder zum Trocknen aufhängen, aber die dürften am Morgen trocken sein, bis alle aufstehen.»
«Er weiß alles! Er liest doch jetzt die Enzyklopädie!», unterbrach sein Bruder, weil er doch der Sohn seines Vaters war und diese Rolle ungern auch nur für ein paar Minuten aufgab. Grischa dagegen wollte ja gar nicht der Sohn seines Vaters sein, er wollte nur den Fotoapparat, eine «Ljubitel» oder besser noch eine «Zorkij».
«Na, mal sehen, ob Väterchen Frost deinen Wunsch überhaupt gehört hat. Oder meinen», seufzte seine Schwester. Er gabelte doch ein Stück Kartoffel auf und steckte es in den Mund.
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Viertes Kapitel
Die Listen gaben mir Kraft und Ruhe wie anderen das Gebet, Alkohol, Drogen, ein Therapeut, die Zigaretten und das Shoppen. Ich wusste, dass sowohl Drogen wie auch Psychotherapeuten gesellschaftlich weit anerkannter sind als Listen. Aber Listen, zumal solche Listen, sind rar, außer mir schreibt meines Wissens niemand so viele Listen, niemand ordnet, niemand pflegt sie. Es ist also in Ordnung, seinem Körper in gewissem Maße Alkohol und Nikotin
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