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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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sich lustig machen wollte, sondern weil er wissen wollte, wie es sich anfühlte, wozu das gut war. Ob dieser Gott, den seine Großmutter wohl hören konnte, auch mit ihm sprechen würde, wenn er sich bekreuzigte. Gott hatte natürlich nichts gesagt, weil es ihn ja auch gar nicht gab, im Nachhinein schämte er sich dafür, es überhaupt ausprobiert zu haben.
    Er legte den Zeichenblock mit dem Waschroboter erst beiseite, besann sich, rückte das Bett ein paar Zentimeter von der Wand ab und klemmte den Block dann zwischen Bett und Wand fest. Solange seine Mutter die Bettwäsche nicht wechselte, und das würde sie in den nächsten Tagen nicht tun, weil sie nur am Wochenende wusch, würde niemand den Zeichenblock entdecken. Er war sich nicht sicher, ob Roboter nicht auch falsch waren, immerhin gab es die in den USA .
    Beim Abendessen erzählte er von der Maschine, und sein Bruder lachte ihn aus.
    «Wie soll sie denn aussehen, so eine Maschine, die Wäsche wäscht? Wie Mama etwa?», und außer ihm lachten alle.
    «Unsere Mama, eine Maschine aus Amerika», meinte sein Vater, der sich sonst selten am Humor versuchte.
    «Aber Jurkas Onkel hat sie gesehen. Er war drüben, vier Tage lang. Er hat sie doch selbst gesehen.»
    «Dieser Jurka ist doch ein Jude!», warf sein Bruder ein. «Ich weiß, wen du meinst, das ist der mit den abstehenden Ohren.»
    «Klingt für mich, als hätte dieser Jurka eine ähnlich blühende Phantasie wie du», warf seine Mutter ein und strich ihm liebevoll über den Kopf, bevor sie die Kartoffeln auf seinen Teller lud. Wie immer Kartoffeln. Und noch nicht einmal Schmand dazu.
    Anastasia war wohl ähnlicher Ansicht und erkundigte sich, was sie an Neujahr essen würden. Er war für Torte, seine Mutter hatte gesagt, sie könnten Torte oder Käse kaufen. Wie sie auf die Idee kam, dass das gleichwertige Alternativen seien, war ihm ein Rätsel. Seine Schwester glaubte mit acht noch an Väterchen Frost, aber er würde ihr nichts sagen, weil es irgendwie nett war (und er es seiner Mutter hatte versprechen müssen), auch wenn er sich schon seit ein paar Jahren wunderte, warum sie Onkel Boris unter dem roten Mantel und dem weißen, meist schief angeklebten Bart nicht schon am Alkoholgeruch erkannte.
    Anastasia wartete mit einem ähnlichen Stoizismus auf Väterchen Frost wie seine Großmutter auf den Kommunismus. Man habe, erzählte Großmutter oft, ausgerechnet, wie lange es noch bis zum Kommunismus dauern würde, zwanzig Jahre ungefähr, und sie zählte die Tage bis zum Kommunismus wie seine Schwester die bis Neujahr. Sie wünschte sich Schlittschuhe, «echte» Schlittschuhe, er selbst hatte wie alle anderen ein paar normale Schuhe, an die er Kufen festgemacht hatte. Echte Schlittschuhe gab es, da war er sicher, nur in den USA . Oder auf dem Mond. Oder bei Großmutters Gott. Er hatte das seiner Schwester erklärt, auch um ihr die Enttäuschung, die er selbst so gut kannte, zu ersparen, aber sie meinte trotzig:
    «Solange du dir einen Fotoapparat wünschen darfst, darf ich mir Schlittschuhe wünschen.»
    Wenn Anastasia keine Schlittschuhe bekommen sollte, würde er ihr seine «falschen» vielleicht ab und zu leihen. Wenn sie hinter den Kindergarten zur zugefrorenen Fläche zum Eislaufen gingen, stand sie eh mehr am Rand, als dass sie lief; die Eishockey spielenden Jungs machten ihr Angst. Er hatte auch ein Geschenk für seine Schwester, das Väterchen Frost, der alte Schlawiner, unter den Neujahrsbaum legen würde. Er hatte vor einigen Wochen ganz vorsichtig Spielkarten gezinkt und gegen ein paar Sechstklässler gewonnen, darunter gegen Pawel, dessen Schwester wie seine Etiketten von Streichholzschachteln sammelte. Eigentlich wurde um Kopeken gespielt, bei den Älteren um Zigaretten, deshalb hatte sich Pawel gewundert, als er ihn stattdessen um die Etiketten bat.
    «Was, bist du ein Mädchen, dass du so was sammelst?», hatte er giftig hingeworfen, aber nicht darauf herumgeritten, weil er lieber die Streichholzetiketten seiner Schwester klaute, als sein Geld herzugeben. Grischa war froh, dass seine Schwester keine Federn mehr sammelte, um Federn hätte er nun wirklich nicht spielen können. Seiner Mutter hatte er ursprünglich ein Bild für Neujahr malen wollen, aber Bilder waren momentan kein gutes Thema in der Familie. Vielleicht würde er Nägel für sie auftreiben können. Er wollte die nächsten Tage, wenn es mal nicht schneite, durch die Abfalldeponien ziehen und in alten Brettern nach nicht zu verrosteten

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