Die Listensammlerin
zuzuführen, um abzuschalten oder auf andere Gedanken zu kommen. Aber jemand, der zu seiner Beruhigung und inneren Ausgeglichenheit nichts weiter als ein Blatt Papier und einen Stift braucht, gilt als sonderbar. Als Neurotiker, der ich übrigens gerne bin, wenn Woody Allen auch einer ist. Eine Neurotikerin, aus Überzeugung sozusagen. Ich glaube, Woody Allen würde meine Listen mögen.
Wann das, also meine Listensammelei, meine Listensammlung, meine Listenleidenschaft ihren Anfang nahm, daran erinnere ich mich nicht, auch wenn ich das sollte, denn schreiben konnte ich damals ja. Die Idee zu meiner ersten Liste, wo kam sie her? Wo, womit, worauf, warum aber vor allem schrieb ich sie auf? Ich sollte das mit einem Therapeuten besprechen, hat Flox zweimal gesagt, einmal ernsthaft, bittend, und einmal im Streit. Nach dem ersten Mal habe ich nicht mehr mit ihm geredet, eine Woche lang. Es fiel mir schwerer als ihm, ich arbeitete von acht bis neun, dreizehn Stunden mit Kaffee und Sandwiches am Schreibtisch, dann ging ich in eine Spätvorstellung ins Kino, ich sah in der Woche dreimal denselben Film von David Lynch, dessen Logik ich zu verzweifelt zu verstehen versuchte, es lenkte ab. Wenn ich nach Hause kam, nahm ich meine Listen zur Hand, weil ich ja nicht mit Flox sprach, überarbeitete sie, strich durch, fügte hinzu, schrieb neu ab, sortierte, ordnete und recherchierte, bis ich über den Listen einschlief, die ich am nächsten Morgen zu glätten versuchen würde und wieder neu ordnen müsste. Dass er meine Listen ablehnte, fühlte sich an, als würde er mich ablehnen, und dass er diese für mich logische Konsequenz wiederum nicht nachvollziehen konnte, verunsicherte meine Überzeugung, er sei der Mann, mit dem ich weiter leben und reisen und sein wollte. Flox sagte dann eine ganze Weile nichts mehr über meine Listen, nachdem wir das zwar nicht geklärt hatten, aber doch wieder miteinander sprachen, zaghaft erst und dann so, als hätte es die sprachlosen Tage nicht gegeben. Später begann er erst vorsichtig und dann immer öfter, weil es uns beide entspannte, sich ein wenig lustig darüber zu machen, auf eine neckende Weise, und nur einmal sagte er im Streit: «Du bist ja nicht ganz dicht! Du mit deinen Listen! Du müsstest echt mal in Therapie!»
Einmal war ich deshalb sogar beim Therapeuten gewesen, mit zwölf oder dreizehn, meine Mutter hatte mich hingeschleppt. Daran erinnere ich mich. Und an Schulhefte, die ich vollkritzelte mit Listen und im Tresor einsperrte, ein abschließbares Fach in meinem Schreibtisch, auf den ich stolz war, weil ich mich dabei wie eine Schriftstellerin fühlte, eine Schriftstellerin mit Geheimfach und Listen. Den Schlüssel trug ich um den Hals an einer schwarzen Lederkette. An solche Ketten hängten die anderen Mädchen bunte Steinchen oder Mickey-Mouse-Anhänger. Auch nachts behielt ich die Kette um. Abends, vor dem Schlafengehen, nach dem Zähneputzen, setzte ich mich an die dafür komplett freigeräumte Schreibtischplatte, schloss das Fach auf und ergänzte die Listen, stellte neue auf, überarbeitete die alten. Wenn ich fertig war, sperrte ich sie ein und hängte mir den Schlüssel wieder um den Hals. Das war das, was meiner Mutter Sorgen gemacht zu haben schien, dass ich diese Listen nicht nur schreiben, sondern auch einsperren, geheim halten musste. Frank nicht, dem machte selten etwas Sorgen, er winkte ab, im wörtlichen Sinne: Er winkte die Bedenken meiner Mutter mit einer für ihn typischen, wie ich später dachte, etwas schwulen Geste, mit einer schlackernden Hand, ab: «Lass sie doch.» Frank wollte gelassen werden und ließ im Gegenzug. Meine Mutter hatte sich anfangs noch über die Listen gefreut, auch daran erinnere ich mich – wie ich aus meinem Zimmer die Treppe hinab in die Küche rannte, um ihr eine neue Liste zu zeigen, wie sie mich auf ihren Schoß setzte (also muss ich noch klein gewesen sein), ihren Tee beiseiteschob und jeden Punkt auf der Liste mit mir durchging, sogar Vorschläge für neue machte. Manche nahm ich auf, andere Listen gehörten mir und waren nicht ergänzbar, sie lachte darüber. Wann begann sie, sich Sorgen zu machen? Als die Listen nicht aufhörten? Als ich in die Pubertät kam? Hatte sie gehofft, es sei eine Phase, aus der ich herauswachsen würde, wie aus meiner Angst vorm Dunkeln? Sie hatte mir nicht gesagt, wohin wir fahren würden, hatte mich von der Schule abgeholt und gemeint, ich müsse zum Arzt. Habe ich sie gefragt, warum? Vertraute ich
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