Die Listensammlerin
so blind meiner Mutter, dass ich ihre Entscheidungen, ihre Richtungsvorgaben noch mit zwölf oder dreizehn einfach hinnahm? Wir stiegen an der Kapuzinerstraße aus dem Bus, und ich folgte ihr, ohne zu fragen, am Buchladen, am Italiener, am Kiosk und an der Zoohandlung, in der wir Nataschas Futter kauften, vorbei, während ich ihr von der neuen Biologielehrerin erzählte, die so dick war, so dick wie ein Wal. Und dann erinnere ich mich an das graue Metallschild am Hauseingang:
STEPHAN SPITZING
Diplom-Psychologe
Kinder- und Jugendpsychotherapie
(Kassenzulassung)
Ich begriff es nicht sofort, erst im Hausflur. Während es in mir arbeitete, ich mir das Schild einprägte, fragte ich: «Warum gehen wir denn dorthin?», obwohl ich es ahnte.
Meine Mutter blieb im halbdunklen Flur stehen, drehte sich abrupt, als hätte sie auf diese Frage gewartet und sich die Antwort zurechtgelegt, zu mir um und legte mir ihre beiden Hände auf die Wangen, eine Geste, die ich ihr bis heute nicht abgewöhnen konnte. Ob ich das damals auch schon unangenehm fand, aber mich herauszuwinden nicht traute? Genau, wie ich jahrelang zugelassen hatte, dass sie auf ein Taschentuch spuckte, um mir Eis- oder Schokoladenreste aus den Mundwinkeln zu wischen, und später, schlimmer noch, um meine viel zu dichten Augenbrauen mit ihren ebenfalls spuckebefeuchteten Fingern zu richten, damit sie ordentlich aussahen, damit ich, wie sie sagte, nicht aussehe wie Tolstoj? Jedenfalls legte sie ihre Hände auf meine Wangen und sagte: «Das ist nur ein Mann, er spricht nur mit dir. Es ist nicht schlimm, es tut nicht weh», und ich dachte, bescheuert bin ich nicht, ich kann einen Psychologen von einem Zahnarzt unterscheiden, und fragte: «Aber worüber soll ich mit ihm sprechen?»
«Worüber du willst.»
«Aber ich will doch gar nicht!»
«Jetzt lass uns doch erst mal hineingehen. Lern ihn doch erst einmal einfach kennen.»
«Aber ich will nicht!», meine Mutter hatte sich wieder dem Aufzug zugewandt und auf den Knopf gedrückt, ich wurde panisch und tat zwei Schritte zurück, wahrscheinlich klang auch meine Stimme energischer und zu laut. Wenn ich nervös werde, werde ich laut, das ist bis heute so, zuletzt war es bei Dr. Steinmann, was ich deshalb genau weiß, weil Flox mich ermahnte wie meine Mutter damals: «Psst. Das ganze Haus kann dich hören! Wir fahren jetzt hinauf, dann lernst du den Mann kennen. Alles wird gut.»
Warum sagen Menschen immer: «Alles wird gut»? Ob ein Kind nun hinfällt und weinen muss, ob man Angst um sein todkrankes Kind haben muss, ob man ohne Vorwarnung zum Psychologen geschleppt wird, immer heißt es: «Alles wird gut!»
Im Aufzug, in den ich ihr widerwillig gefolgt war, ich wundere mich noch heute, dass ich nicht umdrehte und einfach ging, bohrte ich noch einmal nach: «Aber worüber soll ich mit ihm reden?»
«Worüber du willst. Du kannst über die Schule oder über deine Freundinnen reden, worüber du willst. Oder über diese Zettel, die du da immer schreibst und in deinem Schreibtisch einschließt.» Sie schaute mich nicht an, starrte auf die Aufzugstür, hielt sich an ihrer Handtasche fest.
«Meine Listen?»
«Ja, deine Listen.»
«Hast du mich wegen der Listen hierhergeschleppt?»
Nun drehte sie sich wieder zu mir, legte ihre Hände noch mal auf mein Gesicht, sprach wie auswendig gelernt die Sätze, die sie sich wahrscheinlich in den Nächten zuvor zurechtgelegt, vielleicht sogar notiert und laut gelesen hatte, bis sie die Worte gefunden hatte, die dazu taugten, ihrer zwölfjährigen Tochter zu erklären, dass diese verrückt sei:
«Mir ist aufgefallen, dass du immer diese Zettel schreibst. Jeden Abend. Und du sperrst sie ein und liest sie noch mal und noch mal und schreibst irgendwas dazu, und du trägst diesen Schlüssel immer bei dir, auch nachts, das ist mir einfach aufgefallen. Und wenn du daran schreibst und Frank oder ich kommen herein und sagen etwas zu dir, dann reagierst du gar nicht, als wärest du in einer anderen Welt. Und weißt du, es gibt da eine Krankheit, sie heißt Neurose, und das könnte die Erklärung für deine Zettel sein. Und dieser Mann hier, der kann dir helfen. Du sollst doch nur mit ihm reden.» Das war also ihre sorgfältig vorbereitete Begründung.
Im Sprechzimmer des Mannes hingen ein Plakat von Madonna, eines von den Pet Shop Boys und eines von Dirty Dancing; das Vertrauen, das die Plakate in mir wahrscheinlich hätten wecken sollen, weckten sie nicht. Stephan Spitzing hatte einen
Weitere Kostenlose Bücher