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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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Schnauzbart und sprach extrem langsam, er blickte immer etwas zu weit nach rechts und an mir vorbei, als würde er schielen. Meine Mutter musste im Wartezimmer bleiben und wahlweise «Bravo»- oder «Donald-Duck»-Hefte lesen, die einzig vorhandene Lektüre. Dass sie warten musste, hatte ihr nicht gefallen, aber der Diplom-Psychologe, Kinder- und Jugendpsychotherapeut hatte sehr bestimmt erklärt, es sei ja nicht sie, um die es hier gehe, und die Tür hinter mir und ihm geschlossen. Das war das Einzige, was mir an ihm gefiel.
    Er begann vorsichtig, indem er nach der Schule, nach meinen Freundinnen, Lieblingsfächern und meiner Lieblingsmusik fragte, es fehlte nur noch die Lieblingsfarbe, er fragte auch nach meiner Mutter und auch nach Frank. Dass Frank nicht mein richtiger Vater war, dass er mich adoptiert hatte, erwähnte ich selbst, nicht, weil es Redebedarf gegeben hätte, Frank und ich verstanden uns damals wie heute gut, sondern weil ich dachte, dass ihn, den Psychologen, diese Tatsache interessieren könnte. Das tat es auch. Ob ich Frank «Papa» nennen würde, warum nicht, ob ich «Papa» vermissen würde, warum nicht, ob ich mir Geschwister wünschte, warum nicht. Jeder meiner Antworten folgte ein «Warum?» oder ein «Warum nicht?». Nach einer halben Stunde wurde es langweilig, ich starrte das Madonna-Poster an, ich konnte mir so gar nicht vorstellen, dass Stephan Spitzing mit dem Schnauzbart, dem leicht verrückten, seitlichen Blick, der hageren Figur (konnten Erwachsene Magersucht bekommen? Gerade hatte ich ein Buch darüber gelesen) Madonna hörte oder sich im Kino Dirty Dancing ansah. Oder auch nur mal lächelte.
    «Deine Mama hat mir erzählt, dass du gerne Dinge aufschreibst», sagte er und schaute rechts an mir vorbei. Ich schwieg, ich fühlte mich ihm längst überlegen.
    «Was schreibst du denn da so auf?»
    «Verschiedenes. Ich führe Listen.» Ich war bereit, darüber zu sprechen, schämte mich nicht und hielt mich selbst nicht für verrückt. Ich war stolz auf meine Listen, in manchen steckte jahrelange Arbeit. Jahrelange.
    «Was für Listen sind denn das?»
    «Oh, sehr verschiedene. Also, ich habe zum Beispiel eine Liste schöner Menschen. Ich habe eine Liste mit Büchern, die mich zum Weinen gebracht haben, eine mit Büchern, die mich zum Lachen gebracht haben, eine Liste mit Büchern, die ich besser nicht gelesen hätte, eine mit Büchern, die ich noch einmal lesen will. Eine mit Büchern, die noch geschrieben werden müssen, eine mit Büchern, die ich gerne schreiben würde. Ich habe auch eine Liste mit möglichen Allergien, eine mit Tomatengerichten, weil ich Tomaten hasse, eine mit Gerichten, die Zwiebeln enthalten, weil Frank keine Zwiebeln verträgt. Ich habe eine Liste mit tollen Hundenamen, eine mit peinlichen Kosenamen, eine Liste mit Lehrern, die besser etwas anderes hätten werden sollen, eine mit Ideen, was für andere Jobs diese Lehrer sich hätten suchen sollen, eine Liste mit Begriffen, die ich mal nachschlagen muss, weil ich mir nicht sicher bin, was sie bedeuten, eine Liste mit meinen Aufstehzeiten seit dem 23 . Dezember letzten Jahres, eine Liste mit Schimpfwörtern, die die Jungs aus meiner Klasse benutzen, eine mit meinen Noten in allen Fächern. Eine Liste mit Dingen, die ich niemals geschenkt haben möchte, eine mit Stars, die ich gerne treffen würde, eine mit Stars, die ich gerne wäre, eine mit Sätzen, die meine Mutter wiederholt, eine mit den Noten von Christina, das ist meine beste Freundin, eine mit den Anrufzeiten von Christina seit diesem Schuljahr, eine mit den Kuchen, die meine Großmutter backt, sie probiert gerne neue Rezepte aus. Soll ich weitermachen?»
    Ich musste nie wieder zum Psychologen. Ich weiß nicht, ob es daran lag, was Stephan Spitzing zu meiner Mutter im anschließenden Gespräch gesagt hatte, ich wartete geduldig im Wartezimmer und blätterte in der «Bravo», wobei ich mich als Erstes dem Dr.-Sommer-Team widmete, während meine Mutter nun unterhalb des Dirty-Dancing-Posters saß und er vermutlich zwei «Bravo»-Lektüren lang an ihr vorbeischaute, oder ob es an dem strengen «Ich gehe da nie wieder hin!» lag, das ich meiner Mutter entgegenschleuderte, sobald wir das Haus verlassen hatten und bevor ich demonstrativ alleine Richtung Bushaltestelle stampfte. Jedenfalls musste ich nie wieder hin. Wir sprachen auch nie über diesen Besuch beim Therapeuten, nicht am selben Tag und niemals wieder, im Nicht-Sprechen war meine Mutter schon immer ein

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