Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
Vom Netzwerk:
Talent.
    Als Kind schrieb ich Schulhefte voll, später Collegeblöcke, dann, als diese in Mode kamen, Moleskine-Bücher jeder Größe. Liniert, kariert, leer. Elektronische Geräte benutzte ich für meine Listen aus Prinzip nicht. Ich schrieb, wenn ich Zeit hatte oder Stress mich übermannte und immer dann, wenn ich nervös war oder unsicher, ich schrieb, nachdem ich etwas besonders Schlimmes erlebt hatte (oder etwas besonders Schönes), ich schrieb, wann immer wir im Krankenhaus waren, nach jedem Besuch bei meiner Großmutter, nach jedem Streit mit Flox, ich arbeitete an meinen Listen bevorzugt in Momenten, in denen niemand anders an Listen auch nur gedacht hätte, und störte mich an den verwunderten Blicken schon lange nicht mehr. Immer trug ich ein Notizbuch bei mir, und wenn mir unterwegs etwas zu einer Liste einfiel, die ich nicht dabeihatte, kritzelte ich es auf einen Zettel, ein Taschentuch, eine alte Eintritts- oder Fahrkarte und übertrug es zu Hause in die richtige Liste. Ich sperrte meine Listen nicht mehr ein. Flox hätte sie lesen können, aber er wollte nicht. Ich war mir nicht sicher, ob er sich nicht traute, sie ihn schlichtweg nicht interessierten, oder ob er meinen Spleen lieber verdrängte. Manchmal dachte ich, er läse sie heimlich. Neben meinem Schreibtisch stand eine große, alte Holzkiste, wie andere sie im Keller haben. Ich sammelte darin meine Listen, die aktuellen jedenfalls. Jedes Notizheft beschriftete ich, Wunschlisten, Was-wäre-wenn-Listen, Namenslisten, Katzenlisten, Bücherlisten, neuerdings diverse Anna-Listen, Krankenhauslisten, Essenslisten, Menschenlisten, Sonderdinge, Alles andere, Fremdes und so fort. Ich hatte keine Anhaltspunkte für eine mögliche Listen-Spionage vonseiten Flox’, erwischte ihn nie auch nur in der Nähe der Listen-Kiste mit schuldigem Blick, nie sahen die Hefte und Notizblöcke durchwühlt oder in der Reihenfolge verschoben aus, sie waren alle zuerst nach Themen und dann entweder chronologisch oder alphabetisch sortiert. Ich stellte mir einfach gerne vor, dass er hinter die Geheimnisse seiner Freundin kommen wollte, mich also heimlich zu verstehen versuchte. Er tat es nicht. Manchmal erwähnte ich eine konkrete Liste, wenn wir zum Beispiel besonders schlecht essen waren: «Oh, der Laden muss auf meine Liste der schlechtesten Restaurants der Welt!» War Flox gut gelaunt, stimmte er mir zu oder widersprach, wobei wir uns beim Thema Essen meist einig waren, er machte dann vielleicht sogar Vorschläge: «Hast du da auch diesen furchtbaren Italiener in Frankfurt stehen? Weißt du noch, wo die behauptet haben, der Fisch gehöre so, also verbrannt?» Ich freute mich über Feedback und Ideen, gerne hätte ich auch mal mit Flox an meinen Listen gearbeitet, er äußerte nie den Wunsch, ich bat ihn nie.
    Nicht dass ich mich selbst für verrückt hielt. Dass ich normal war, zeigte ja gerade die Tatsache, dass mir durchaus aufgefallen war, auch schon als Kind, dass außer mir niemand Listen führte, sammelte, verbesserte und pflegte. Andere schreiben manchmal To-do-Listen, am häufigsten noch Einkaufslisten, die sie dann beim Warten an der Kasse unauffällig fallen lassen, als wären sie etwas Peinliches, Unangenehmes, das man besser nicht zurück nach Hause bringt. To-do-Listen wirft man hingegen mit Stolz und Zufriedenheit in den Mülleimer wie einen Basketball in den Korb: Ich habe es geschafft! Nie bin ich jemandem begegnet, der Listen aus Überzeugung führte. Das ist in Ordnung so. Manchmal, in der Schule – wo mein bester Freund Patrick jede freie Minute damit verbrachte auszurechnen, um wie viel höher die Wahrscheinlichkeit für einen Autounfall an einer normalen Kreuzung im Vergleich zu einem Kreisverkehr ist und um wie viel Prozent diese Wahrscheinlichkeit wuchs, wenn sich an der Kreuzung nicht nur zwei, sondern drei oder vier Straßen treffen –, dachte ich, vielleicht machen die Listen mich zu dem besonderen Menschen, der jeder laut unserer Ethiklehrerin war. Patrick und Kreisverkehre, Sofia und Listen, wir waren etwas Besonderes, auch wenn die anderen in der Klasse das nicht so sahen, sie uns meist, wenn ich ehrlich bin, übersahen. Unsere Ethiklehrerin war dick, schüchtern und alleinstehend, außer mir respektierte sie keiner, es hörte ihr auch kaum einer zu. Ich mochte sie, weil sie mit uns über Philosophie und Psychologie redete und ich mich gerade durch Freud und Nietzsche quälte und klüger sein wollte, als ich war, und weil sie mich mochte

Weitere Kostenlose Bücher