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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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und, noch wichtiger, mich tatsächlich ernst nahm. Patrick war nicht nur mein bester, sondern auch mein einziger Freund. Noch später, nachdem er weggezogen war und ich mich erst mit zwei Mädchen aus der Parallelklasse anfreundete, mit ihnen mein erstes Schminkzeug kaufte, die erste Disco besuchte, im Wohnzimmer der einen den ersten Jungen küsste, dachte ich, ich müsse mit dem Listenschreiben aufhören, um nicht mehr ganz so ausgefallen besonders zu sein. Ich hörte für zwei, drei, vier Wochen auf, aber als der Junge, den ich geküsst hatte – ich ihn, er hatte es mehr so hingenommen –, dann doch lieber mit der einen Freundin ging, war das Listenschreiben das Einzige, was half. Nicht das Weinen, nicht die laute Musik, nicht das Eis, das mir meine Mutter brachte, nicht der Zehnmarkschein, den mir Frank in seiner üblichen unsicheren, von einem Grunzen begleiteten Geste zuschob. Nicht die andere Freundin, die neben mir auf dem Bett saß, ihre Fußnägel lackierte und neuerdings auch schon lange gewusst haben wollte, dass Lisa «eine Schlampe» war, und mir begeistert von Paul erzählte, den sie mir vorstellen würde und mit dem sie eine Woche später selbst ging. Auch nicht der Apfel-Schoko-Kuchen meiner Großmutter, den sie sich für mich ausdachte, Apfel und Schoko, meine zwei Lieblingskuchen in einem, nichts davon half. Aber als ich ein paar Abende später eines der Listenhefte hervorkramte, ich hatte sie unters Bett zwischen die Plastikhüllen geschoben, in die meine Mutter im Winter meine Sommerklamotten und im Sommer meine Winterklamotten stopfte, eine neue Liste begann und ein paar alte mit Gedanken ergänzte, die ich mir in den vergangenen Wochen gemacht und sofort wieder verdrängt hatte, ging es mir besser. Das erste Mal seit Tagen ging ich wieder ohne Tränen ins Bett und schlief sofort ein. Ich war die mit den Listen, die Einzige auf der Welt, das war schon in Ordnung so.
     
    Hatte ich gedacht.
    Plötzlich saß ich nun auf dem Boden mit dem Rücken an den Schrank gelehnt über einer alten, unspektakulären Holzschatulle, zwanzig Zentimeter lang, halb so breit, schlicht, dunkelbraun, ohne Verzierungen, ohne Schloss, als hätte sie jemand zusammengezimmert, der kein Kunstwerk, sondern nur etwas Praktisches schaffen will, und blickte auf: Listen. Ich hatte die Schatulle zufällig im Schrank meiner Großmutter entdeckt, den ich gerade ausmistete, weil meine Mutter sich endlich mit dem Gedanken abgefunden hatte, dass sie aus dem Heim nicht mehr in ihre Wohnung zurückkehren würde. Die Schatulle hatte auf dem Schrankboden gestanden, links hinten, und ich hatte sie erst gesehen, nachdem ich alle Blusen und Röcke (Hosen hatte meine Großmutter nie getragen) an ihren Bügeln herausgenommen und in Kleidersäcke gepackt hatte (und mir bei jedem einzelnen Kleidungsstück die Frage stellte, in welches Land das Rote Kreuz es wohl schicken würde, welches Schicksal die Frau vor sich haben würde, die zum Beispiel diese knallgelbe Bluse tragen würde, die meine Großmutter gern an Geburtstagen anzog, weil sie feierlich wirkte). Ich nahm die Schatulle heraus, machte sie auf, blätterte die sorgfältig gefalteten Blätter vorsichtig auf. Erst war ich überrascht, dann schockiert, dann glücklich, ich traute mich kaum, die Listen anzufassen. Sie waren teils vergilbt und teils verblasst, auf manchen war die Schrift verschwommen, einige waren so oft gefaltet worden, dass sie an den Knickstellen auseinanderfielen, sobald ich sie aufzublättern versuchte, ein paar unten abgerissen. Die Schrift war schwer zu entziffern, es war kyrillisch, das Papier roch morsch, und bis auf ein leider fast leeres Heft handelte es sich um lose Zettel verschiedener Größe. Zwei Bleistiftzeichnungen waren auch dabei und ein längerer Text auf einer Rückseite, aber ein Listenprofi wie ich, der sich auskannte und Listen mit Herz und Seele liebte, wusste auf Anhieb, worum es sich hierbei handelte.
    Ich hielt die geöffnete Schatulle in den Händen und wusste nicht mehr weiter. Was jetzt, was sollte ich damit tun, wen ansprechen, wem es erzählen? Ich war aufgeregt, kurz hatte ich Angst, ich sei nun tatsächlich verrückt geworden, ich dachte an Horror- und Serienmörderfilme, in denen der Mörder solche schrägen Dinge für das Opfer vorbereitet, ich dachte außerdem an einen Streich, den mir wer? Flox? spielen würde, und dann starrte ich einfach eine Weile die Schatulle an.

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    Fünftes Kapitel
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