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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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    • Anna Ahmatowa
    • Josef Brodskij
     
    Von der Straße hört man widerliches Jungengeschrei. Ich liege da und denke mir Strafen für sie aus. Am meisten gefällt mir die Idee, Starrkrampf über sie zu bringen, damit sie plötzlich aufhören, sich zu bewegen. Die jeweiligen Eltern schleppen sie nach Hause. Sie liegen in ihren Bettchen und können nicht einmal essen, weil ihre Münder nicht aufgehen. Sie werden künstlich ernährt. Nach einer Woche vergeht der Starrkrampf, aber die Kinder sind so schwach, dass sie noch einen Monat lang im Bett bleiben müssen. Dann beginnen sie langsam, gesund zu werden, aber ich schicke den zweiten Starrkrampf über sie, und sie krepieren alle.
     
    Grischa kämmte sich die schwer zu bändigenden Haare, so gut es ging, nach hinten und gab sich Mühe, die Locken irgendwie hinter die Ohren zu klemmen. Er wollte eigentlich Pomade besorgen, konnte aber auf die Schnelle, er hatte ja nur diesen einen Tag, keine auftreiben. Er meinte, mit nach hinten gekämmten und erst recht mit von Pomade glänzenden Haaren älter auszusehen, mindestens wie sechzehn, vielleicht siebzehn. Er hatte sogar seinen Bruder nach dessen Meinung gefragt, der gelegentlich Pomade benutzte (und wo aufbewahrte?), und die Antwort war erwartungsgemäß so herzlich ausgefallen, wie er es von seinem Bruder eben kannte. Er hatte einen Rippenstoß verpasst bekommen.
    «Nicht nur erwachsen, sondern auch noch wunderhübsch siehst du aus, du Dummbatz.»
    Nun fühlte er sich erst recht befugt, Andrejs Jackett auszuleihen. Es war ihm definitiv zu lang, aber es war auch schwarz, und die Kombination zu lang und schwarz würde ihn ebenfalls älter wirken lassen. Er musste einfach älter aussehen, er drückte die Schultern nach hinten durch und hob den Kopf, Giraffenhals dachte er, breitschultrig dachte er, und bei breitschultrig dachte er sofort an seinen Vater und versuchte dessen Gang. Sein Vater betrat den Raum wie ein Bär, leicht tollpatschig zwar, aber auch mit großen, lauten Schritten, sein breiter Körper schien zu schreiten, nicht nur die Beine, und jeder wusste sofort: Er ist jetzt da. Er tat ein paar Schritte nach hinten und ging wieder auf den Spiegel zu, probierte den Bärengang, für den er nicht die geeignete Figur hatte. Er würde heute Abend, wenn der Vater von der Baustelle käme, auf dessen Körperhaltung achten (und er hoffte, es sei die Körperhaltung, nicht nur der Körperbau). Sein Vater hatte Muskeln, der stärkste Mann der Welt, in seinen eigenen Armen musste man die Muskeln mit der Lupe suchen. Grischa hatte keine Ahnung, warum er so wenig wuchs – er war doch ständig am Essen (essen, schlafen, wichsen, mehr machte er doch nicht), und trotzdem blieb er klein. Ihm fiel ein, dass er sich noch Einlagen für die Schuhe besorgen wollte, zwei Zentimeter machten schon einen Unterschied, hoffentlich.
    Seine Mutter putzte gerade Schuhe im Flur. Jetzt war sie in der Diele, ausgerechnet jetzt, dachte er eine Sekunde lang und schämte sich sofort, dass er sich von so einer Kleinigkeit durcheinanderbringen ließ, und er lachte sich aus (etwas zu laut, weil seine Mutter hatte aufblickte), ja, so würde er ganz sicher weit kommen, wenn er Angst vor seiner schuheputzenden Mutter hatte. So würde er ganz sicher nach Peredelkino kommen, aber ja.
    «Was ist so lustig?», fragte sie.
    «Das Theaterstück.» Grischa freute sich sehr, dass ihm schnell etwas eingefallen war. Er wurde immer besser.
    «Welches Theaterstück?»
    «‹Der Revisor›. Lese ich gerade.»
    «Gogol.»
    «Ja, Gogol.»
    «Und es gefällt dir?» Sie schaute auf, hoffnungsvoll. Sie hatte vor ein paar Wochen sein erstes (und nun nicht mehr in seinem Besitz befindliches) Samisdat-Werk entdeckt, verbotene Gedichte von Anna Ahmatowa, die jemand abgeschrieben, hektographiert und dann heimlich an die richtigen Leute verteilt hatte, er war stolz, zu den richtigen zu gehören. Zehn engbedruckte, zusammengeklammerte Seiten, und er hätte sich in den Hintern beißen können, weil er es nicht besser versteckt hatte.

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