Die Listensammlerin
Als hätte er aus der Erfahrung mit den Bildern der nackten Mädchen nicht gelernt oder aus der mit seinem Quartalszeugnis vom letzten Herbst. Wobei ihn das Auffinden der Gedichte weitaus mehr berührte und ärgerte. Die Bilder der Mädchen hatten ihn so sehr nicht begeistert, er hatte sie als Tauschmittel für Zigaretten geplant, und die Noten hätten seine Eltern spätestens am Jahresende eh erfahren.
«Ja. Es ist sehr lustig. Ich mag alles, was lustig ist, weißt du doch.» Es war wichtig, glaubwürdig zu bleiben, niemals zu sehr von der Wahrheit abzuweichen.
«Gogol hat nicht nur lustige Sachen geschrieben. Du könntest auch ‹Die Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen› lesen.»
«Mache ich vielleicht, wenn ich mit dem ‹Revisor› fertig bin. Aber ich dachte, dass ich etwas daraus im Dramaklub rezitieren könnte. Was hältst du davon?»
«Gute Idee. Du musst es auswendig lernen.» Grischa war sich nicht ganz sicher, ob sie ihn für minderbemittelt oder doch nur für faul hielt, beschloss aber der Taktik willen, nicht nachzufragen.
«Ja. Das mache ich. Ich lerne es auswendig. Ich will einen Dialog auswählen und beide Rollen spielen. Die des Stadthauptmanns und auch die von Tschlestakow.»
«Ist das nicht zu viel?»
«Nein. Ich muss die beiden nur unterschiedlich darstellen. Ich dachte, ich bastele einen Schnurrbart und nehme eine Kappe mit, und einer ist dann mit Schnurrbart, Kappe und Jackett und der andere ohne.»
Sie schaute ihn nicht an, während sie den schwarzen Stiefel des Vaters fleißig weiter wienerte, aber er sah Verwunderung und Anerkennung in ihren Augen blitzen. Es war ja so unglaublich einfach.
«Ich dachte, der eine müsste auch größer sein als der andere.»
«Warum?»
«Damit man sie besser unterscheiden kann.»
«Übertreib es nicht. Konzentrier dich auf den Text. Schauspielern hat wenig mit Aussehen zu tun. Viel mit der Sprache, mit dem Ausdruck. Du könntest Gedichte rezitieren, das hilft. Außerdem, wie würdest du das machen wollen, willst du nach jedem Satz wachsen und dann wieder schrumpfen?» Sie lachte über diesen Witz. Er hatte mehr Humor als seine gesamte Familie zusammen. Ein wenig schämte er sich für diese Feststellung.
«Nein, ich dachte an deine Schuheinlagen. Die, die du mit den beigefarbenen Stiefeln trägst, die etwas dickeren. Ich dachte, ich könnte sie in meine Schuhe stecken. Und wenn ich den anderen spiele, die Schuhe schnell ausziehen.»
Nun sah sie auf. Misstrauisch. Grischa lächelte ihr Lieblingslächeln. Das ihres kleinen Engels. Engel-Bengel-Schlingel. Neigte den Kopf ein wenig zur Seite, verzog die Lippen, legte die Stirn in Falten, als würde er nachdenken, Pause. «Ich hatte nur überlegt, ob das … was denkst du? Wenn ich das so machen würde, also wenn alle zusehen können, wie ich den Schnurrbart abreiße, die Schuhe ausziehe, wie ich das Jackett und die Kappe abwerfe, ob das nicht noch mehr Komik gibt. Also ob das nicht zu Gogol und dem Stück passt … Was meinst du?» Und noch ein Lächeln, zaudernd. Er war wirklich an ihrer Meinung interessiert.
«Ich glaube nicht, dass Gogol deine Kostüme braucht. Es gibt doch Regieanweisungen. Da steht alles. Du musst nichts erfinden.» Kopf zum Boden, Haarsträhnen fallen ins Gesicht. Traurig.
«Ich würde es aber gerne ausprobieren, meine Idee. Nur hier. Darf ich? Ich probiere das so, probe, und dann zeige ich es dir, und dann sehen wir weiter.»
Wir, das war gut. Sie mochte das «wir», sie mochte Gemeinschaft, insbesondere Familiengemeinschaft, und an ihm mochte sie nicht, dass er diese Familiengemeinschaft in der Regel nicht respektierte. Er wagte den nächsten Schritt.
«Ich mache das vielleicht abends. So eine Art Generalprobe, wenn alle da sind. Auch wenn Andrjuscha», er sagte Andrjuscha und konnte sich nicht entsinnen, wann er seinen Bruder das letzte Mal so genannt hatte, wie sie ihn nannte, Andrjuscha, Liebe schwang in dem «scha» mit, diese Liebe empfand sie, er aber schon eine Weile nicht mehr. Sie freute sich und schöpfte keinen Verdacht.
«Ja, das ist doch eine gute Idee. Alle werden sich freuen.»
Was er sehr bezweifelte.
«Aber sei vorsichtig damit. Nicht dass die Einlagen kaputtgehen.»
«Wie sollte ich sie denn kaputt machen?»
«Von dir kann man alles erwarten.»
Sie holte ihre beigefarbenen Stiefel aus dem Regal, fummelte die Einlagen heraus. Sie waren noch dicker, als er sie in Erinnerung hatte. Sehr schön.
«Und füttere die Katze! Sie scharwenzelt schon seit
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