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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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besonders. Die Mutter der Freundin jedoch, von der Biographie des großen russischen Dichters in keiner Weise beeindruckt, hakte irritiert nach: «Und warum hängt er bei euch im Flur?» Ich meinte herauszuhören, dass sie diese Tatsache sonderbar fand, meinte zu sehen, dass sie Luisa rasch an die Hand nahm und ging. Seitdem beobachtete ich, wie Besucher auf Onkel Lev reagierten. Die Freunde meiner Eltern aus der Tolstoj-Gesellschaft begrüßten ihn freundschaftlich, Hermann, der jahrelange Vorsitzende, machte sich jedes Mal ein Späßchen daraus, sich vor dem großen Lev zu verbeugen. Großmutter ignorierte ihn, nicht weil sie ihn nicht mochte, sondern weil sie ihn nicht mehr wahrnahm; ähnlich auch andere Besucher, die häufig zu Gast waren. Neuer Besuch fragte meist interessiert bis irritiert nach und wusste keine Erwiderung, wenn meine Mutter erklärte, dass es der große Lev Nikolajewitsch Tolstoj war, der da hinge, immer benutzte sie seinen vollen Namen, als würde sie ihn vorstellen, als würde Lev Nikolajewitsch Tolstoj sogleich aus dem Bild treten und dem Besucher die Hand schütteln. Wuchs man unterhalb des Porträts von Tolstoj auf, bekam man mehrmals täglich Tolstoj zitiert (redete ich als Kind schlecht über andere, sagte Frank immer: «Eine schlechte Handlungsweise kann man sein lassen, man kann sie bereuen, aber böse Gedanken gebären fortgesetzt böse Taten», zitiert aus «Auferstehung», wie ich später herausfand), kam man nicht umhin, Lev Nikolajewitsch als Mitbewohner anzusehen, eine Art fünftes Familienmitglied neben Natascha. Natascha war die Katze, Natascha wie Natascha aus «Krieg und Frieden», Frank meinte, die Katze hätte einen ähnlichen Intellekt. Mama, Frank, Natascha, Lev und ich, das war meine Familie. Und Großmutter, aber Großmutter war extra. Bei Großmutter roch es nach Apfelkuchen, es gab keine Bilder von Tolstoj, noch nicht einmal Bücher von Tolstoj, es gab immer Kuchen, der nicht immer Apfelkuchen war, obwohl es immer nach Apfelkuchen roch.
    Neuer Besuch also, dem Lev Nikolajewitsch Tolstoj von meiner Mutter vorgestellt wurde, wusste in der Regel nichts zu entgegnen. Mit einer solchen Überzeugung und Selbstverständlichkeit stellten meine Mutter und Frank Tolstoj vor, dass der Besuch meine Eltern für verrückt halten musste.
    Nach Lev begrüßte mich Anna. Sie rannte mir entgegen, die tapsenden Schritte hörte ich, bevor ich sie sah und in die Arme nehmen und in die Luft werfen konnte, dann das aufgeregte Erzählen ohne Unterbrechung, und ich musste mal wieder denken, ist es nicht das süßeste Kind der Welt, und wunderte mich darüber, wie und warum und wann genau ich eine so klischeehafte Mutter habe werden können.
    «Da ist ja die Mami!», sagte Frank, der Anna aus dem Wohnzimmer gefolgt war, mit seiner Anna-Stimme. Ich staunte jedes Mal, vor Anna hatte ich ihm weder die Tonlage noch den Tonfall zugetraut, die er anstimmte, sobald sie in der Nähe war. Nie habe ich als Kind Franks Zuneigung zu mir in Frage stellen müssen, Zuneigung, weil Liebe ein zu großes Wort gewesen wäre, nicht weil er mich nicht liebte, sondern weil er große Worte nicht gern aussprach und auch nicht gern hörte. Er spielte mit mir, er las mir vor und las später als Erster meine Geschichten. Wenn ich krank war, brachte mir Frank täglich Süßigkeiten, die er in unzähligen Schichten Zeitungs- und Geschenkpapier geschnürt hatte, damit die Freude des Auspackens länger dauerte, er ging viermal mit mir und meinen Freundinnen in «Dirty Dancing», und wenn sich meine Mutter und Großmutter über meine schlechten Noten und mein Desinteresse an Weltliteratur, insbesondere der russischen, beschwerten, verteidigte er mich mit seiner tiefen, aber immer leisen Stimme. Frank war ein toller Vater, wenn er auch nicht der meine war. Ich habe nie etwas vermisst, aber an etwas wie eine Sofia-Stimme erinnerte ich mich nicht.
    «Er ist jetzt Opa», sagte meine Mutter, wenn sie ihn so sprechen hörte, auch sie nahm den Unterschied wahr, sie klopfte ihm anerkennend auf die Schulter, als hätte er persönlich mit Annas Dasein in der Welt etwas zu tun. Manchmal rief sie ihn sogar neuerdings so, Opa, wollen wir der Anna was zu essen machen, Opa, weißt du, wo der Bär von der Anna denn hin ist. Die ersten Male war ich unangenehm berührt gewesen, bis ich sah, dass es Frank nicht störte, vielleicht sogar freute.
    Ich behielt Anna und Bär, der nur Bär hieß, auf dem Arm und klopfte Frank auf die Schulter, er

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