Die Listensammlerin
anzuschauen, er wusste, wovon die Rede war, vielleicht hatte er die Frage zu den Kratzern schon häufiger gehört. Er zündete sich ebenfalls eine Zigarette an und kehrte zum Thema zurück. «Ich will mitmachen. Man muss etwas tun. Zum Reden ist keine Zeit.»
Die Forschheit überraschte und freute ihn, er war sie nicht gewohnt. Niemand war forsch, die meisten redeten nur gern. Sie langweilten ihn, in letzter Zeit langweilte ihn einfach alles. Er schwieg. Zappeln lassen. Noch einmal an der Zigarette ziehen. Ausatmen. Man sah den Rauch in der Kälte. Er wartete, bis er nicht mehr zu sehen war.
«Ja, zum Reden ist keine Zeit!», wiederholte er langsam. Zog noch einmal an der Zigarette. Blickte zum Himmel. Es würde bestimmt bald wieder regnen. Er kostete die Erwartung aus, die in der Luft hing.
«Wir gehen wieder rein!», rief Alissa zu ihnen herüber.
«Wir kommen gleich. Rauchen nur auf und kommen dann», sagte er, obwohl Sergejs Kippe bereits auf dem Boden lag, und schenkte ihr sein breitestes Lächeln. Das «Wir» gefiel ihm. Sergej blieb neben ihm stehen.
Er wartete, bis alle wieder hineingegangen waren, und dann noch einen ganzen Zug lang. «Meisterdarsteller» schimpfte ihn seine Mutter, wenn er jeden noch so unwichtigen, kleinen Moment inszenierte. «Wenn er ein Meisterdarsteller ist, warum arbeitet er dann nicht im Theater?», entgegnete sein Vater jedes Mal, bis heute war er sich nicht sicher, ob es ein Witz war, ob Verachtung oder Hoffnung in diesem Satz steckte. Als er vor ein paar Monaten erzählt hatte, er würde beim Kulissenbauen im Theater helfen, hatte sich niemand darüber gefreut, nicht einmal seine Schwester.
Er spuckte nun auf den Boden, drehte sich ruckartig zu Sergej, blickte ihm in die Augen und fragte leise: «Willst du dabei sein?»
«Ja. Will ich sehr.»
«Ich muss das noch besprechen. Aber wir brauchen überzeugte Aktivisten in unserem Kreis. Ich muss das noch mit den anderen klären, aber wir sollten uns schon mal in Ruhe unterhalten», erklärte er und hoffte, sein Ton stünde dem des neuen Mathematikprofessors in nichts nach, der hatte so eine Art, auf einen einzureden, dass die Formeln nur so aus einem heraussprudelten.
«Ja, gerne. Sag einfach, wann und wo!», antwortete Sergej wie ein eifriger Pionier. Pioniere!
«Am besten, du kommst mal zu mir, wenn keiner da ist. Vormittags, wenn Unterricht ist. Es macht dir doch nichts aus, den Unterricht zu verpassen, oder?»
«Nein. Gar nicht, Genosse Bender.» Sergej grinste.
Er fand, es lief gut.
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Achtes Kapitel
Es gab sechs Erinnerungen, vielleicht auch nur fünfeinhalb. Hing davon ab, wie ich rechnete. Ich zählte sie zusammen und spulte sie ab, immer wieder. Wenn ich nicht schlafen konnte oder wenn ich in der Badewanne lag oder in der U-Bahn saß und es sich nicht lohnte, ein Buch herauszuholen, weil ich nur ein paar Haltestellen fuhr. Ich nahm sie durch, wie man in der Schule Lernstoff durchnimmt: chronologisch, analytisch, rational. Als wäre ich nicht Teil der Erinnerungen, als schaute ich mir einen Film an, der von einer handelt, die aussieht wie ich.
Erinnerung eins: Ich bin zwölf, fast dreizehn, in meinem Kopf hängt Erinnerung eins mit meiner ersten Periode zusammen, die wiederum die Erinnerung an meine Mutter ist, wie sie neben mir in unserem kanarienkäfiggroßen Badezimmer steht, mir die Hände auf die Schultern legt und sagt: «Du bist jetzt eine Frau», andächtig, was in mir einen Fluchtreflex auslöst, fliehen kann ich aber nicht. Es ist kurz davor, vielleicht nicht wenige Tage, aber wenige Wochen, vielleicht aber auch danach, jedenfalls um diesen Zeitpunkt herum, und deshalb weiß ich, dass ich fast dreizehn gewesen sein muss. Ich liege abends im Bett und lese und höre meine Eltern miteinander sprechen, ohne darauf zu achten, also eigentlich höre ich die Stimme meiner Mutter und dazwischen Franks Gemurmel, der wie immer leise spricht. Unser Haus ist klein, alt und hellhörig, ständig hört man irgendwas: Der Wasserhahn läuft, im Fernsehen deklamieren Nachrichtensprecher, jemand steigt die Treppe hinauf oder herunter, und wenn sonst alles still ist, dann pfeift der Boiler leise vor sich hin, dann knattert die uralte Heizung oder knarzt ein offenes Fenster. Stille, vollkommene Stille machte mir Angst, als ich ein Kind war. Die Stimmen meiner Eltern beruhigten mich, lullten mich, seit ich denken konnte, in den Schlaf wie ein Gute-Nacht-Lied, und nachdem ich zum Studieren nach Hamburg
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