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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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am Bauch, und einem sehr dünnen Schwanz, sie war ungefähr vier Jahre alt, als ich zur Welt kam).
    12 . Familie: Vater: 1947 an Kriegsverletzungen verstorben. Mutter: verstorben 1972 . Keine Geschwister.
    13 . Aussehen: dunkles Haar (so wie meins, nur krauser), braune Augen (so wie meine), Stupsnase, enganliegende Ohren (enger als meine), groß, ca. 1 , 78  cm, schlank, Narbe an rechter Hand (Sturz in Kindheit, Mama erinnert sich nicht mehr, in welchem Zusammenhang).
    14 . Eigenschaften: sehr ruhig, nett («im russischen Sinne», «dobryj», sagt Mama, bedeutet gütig, großzügig), sehr schüchtern, sprach nicht gerne vor Menschen, treuer Freund, nachdenklich, ausdauernd, konsequent.
    15 . Großmutter sagt: «Einen intelligenteren Menschen habe ich nicht gekannt.» (Mama sagt dazu: russische Bedeutung von intelligent, bedeutet: höflich, ein guter Mensch, interessiert, interessant.)
    Ich blättere gerade in meinem Listenordner weiter, weil ich den fünfzehn Punkten, die ich im Schlaf aufsagen könnte, nichts hinzuzufügen habe, jahrelang hatte ich meine Mutter und Großmutter gelöchert und nichts weiter herausbekommen, ich blättere also mit meinem obligatorischen Seufzer beim Anblick dieser armseligen Liste, der einzigen nummerierten, als meine Mutter mein Zimmer betritt, ohne anzuklopfen. Dass sie meine Privatsphäre nicht respektiert, auch nicht das riesige «Bitte anklopfen», das ich gegen ihren Willen mit schwarzem Lack an die Tür gesprüht habe –
    « BITTE ANKLOP -
      FEN »
    steht in schiefen Buchstaben da, weil «anklopfen» nicht in eine Zeile gepasst hatte –, ärgert mich wie sonst nichts in jener Zeit. In diesem hellhörigen Haus, in diesem Gefängnis aus Fragen, ist mein Zimmer meins. Sollte mein Zimmer meins sein.
    «Wie geht es dir, mein Sonnenschein?», fragt meine Mutter mit dieser Besorgnis in der Stimme, als stünde es wirklich schlimm um mich, als stünde ich kurz vor dem Tod.
    «Kannst du nicht anklopfen?»
    «Ich vergesse es einfach immer.» Keine Reue in der Stimme.
    «Ich erinnere dich jeden Tag mehrmals dran.»
    «Was machst du? Hast du deinen Tee getrunken? Soll ich dir noch einen bringen?»
    «Nein.» Ich versuche, so kurzangebunden zu sein, wie Teenager es angeblich sind.
    «Mittagessen ist bald fertig. Ich habe eine Hühnersuppe gekocht, die wird mit deinen Viren bald fertigwerden.»
    Wenn die wechselnden homöopathischen Mittelchen, die meine Mutter als das absolute und einzige Heilmittel ihrer Wahl entdeckte, weder Frank noch mir halfen, griff sie auf die Hühnersuppe meiner Großmutter zurück, die auch nicht half.
    «Kein Hunger.»
    «Ein bisschen Hühnersuppe wird dir guttun. Das ist kein Essen, das ist Medizin.»
    Kürzer als Einsilbigkeit ist nur Schweigen.
    Sie spricht für uns beide genug. «Das wird dir sicher guttun, wenn du ein bisschen aufstehst und runterkommst und etwas isst. Aber ich könnte dir die Suppe auch bringen, wenn du magst. Wenn du dich nicht danach fühlst, runterzugehen.»
    Ich schweige weiter.
    «Dann nehme ich deine Teetasse schon mal mit. Bist du sicher, dass ich dir nicht noch einen machen soll? Ich kann ihn dir ja hinstellen, und du trinkst ihn, wann du magst.»
    Meiner Mutter setzt es zu, dass ich nichts sage, dass ich nichts erzähle, es geht nicht nur ums Jetzt, es geht ums Immer. Manchmal spricht sie mit Frank darüber, ich höre sie nebenan, jedes Mal sagt Frank, es ist das Alter, ich gebe ihm in meinem Bett liegend recht, ich nicke jedes Mal eifrig, sie aber wohl nicht. «Wir standen uns immer so nahe», sagt sie klagend zu Frank, seltener zu mir, und dieser klagende Ton, dieser verzweifelte Wunsch nach einer ach so freundschaftlichen Mutter-Tochter-Beziehung macht mich regelrecht aggressiv. Deshalb schweige ich so häufig, deshalb schweige ich auch jetzt.
    «Was machst du da eigentlich? Du sitzt über deinen Listen, ja? Kommst du gut voran? Woran arbeitest du gerade?»
    Ich frage nun doch – vielleicht, um mich für diesen kläglichen, verlogenen Versuch, mir näherzukommen, über meine Listen, die sie weder versteht noch gutheißt, zu rächen, vielleicht auch in der Hoffnung, ihre Verzweiflung ausnutzen zu können, frage ich nun doch: «Hast du vielleicht noch einen Punkt für meine Liste über meinen Vater? Das ist die, an der ich gerade sitze.»
    Sie zögert kurz und kann dann doch nicht widerstehen und setzt sich an meinen Bettrand. Auch das macht mich wütend, aber ich sage nichts.
    «Lass mal sehen!», meint sie, und ich

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