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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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besser, die Geschichten, die über ihn im Umlauf waren, waren meistens spannender als sein tatsächliches Leben. Sein Spitzname, «der Riesenkombinator», angelehnt an Ostap Bender, den charmantesten und schlagfertigsten Abenteurer der russischen Literaturgeschichte, der sich selbst «der große Kombinator» nannte, war für ihn ein Kompliment. Wie oder warum sich die Geschichten verbreiteten, wusste er selbst nicht. Danach gefragt, blieb er stets vage, weder bestätigte er sie, noch widersprach er ihnen, manche brachten ihn erst auf neue Ideen, andere waren bildreiche Übertreibungen tatsächlicher Vorfälle. Letztes Semester, als er noch Pädagogik studierte, hatte er seinem Professor eine Notiz geschrieben, als Antwort auf eine schlechtbenotete Arbeit. Darin hatte er dem Professor widersprochen, nicht der Benotung, sondern der Begründung, es ging um die Folgen des staatlichen Außenhandelsmonopols auf den Aufbau der Neuen Ökonomischen Politik in den zwanziger Jahren, und der Professor hatte mit einer seiner üblichen Standpauken reagiert. Selbst zum Bestrafen war der Professor also zu faul gewesen, das hatte ihn ein wenig enttäuscht. In seinen Kreisen wurde bald aus der unwichtigen Notiz eine glühende Protestrede, die er auf die Rückseite eines Flugblattes geschrieben und dem Professor mit einer Verbeugung überreicht haben soll, woraufhin dieser mit dem Institutsdirektor eine Kommission gebildet hätte, eigens zu dem Zweck, über seinen Ausschluss aus dem Institut zu diskutieren, dem er dann doch knapp entkommen sei. Wie – auch darüber waren verschiedene Geschichten im Umlauf. Dass es eine solche Kommission nie gegeben hatte, bedauerte er sehr.
    «Ich hoffe, du hast nur Gutes gehört», sagte er nun zu Sergej.
    «Aber ja. Ausgesprochen Gutes, Ostap.» Sergej grinste ihn an, dann richtete er den Blick wieder zur Wand.
    «Gefällt es dir bei uns?», fragte er, während er seine Zigaretten aus der Tasche zog. Da sie nun schon miteinander ins Gespräch gekommen waren, musste er ihn nicht um eine bitten. Stattdessen hielt er Sergej die Packung hin, der den Kopf schüttelte, ohne «Danke» zu sagen, also zündete er sich selbst auch erst einmal keine an, steckte sie in die Tasche. Es hatte inzwischen zu regnen aufgehört, Sergej hatte seinen Schirm drinnen gelassen. Tiefe dunkelgraue Wolken hingen noch immer über ihnen, es konnte jederzeit wieder losgehen. Seit einer Woche regnete es fast ununterbrochen.
    «Grundsätzlich ist es sehr interessant, was ihr macht. Ich denke schon lange über all das nach. Man muss nicht besonders klug sein, damit einem die Fehler im System auffallen. Die Menschen werden nicht gleich behandelt, die Partei entscheidet, was man denken, wie man handeln soll. Aber was der Kerl mit den dunklen Haaren und der Brille da erzählt hat, das ist alles Theorie. Ich würde was tun wollen, versuchen, etwas zu ändern. Denken kann ich alleine. Ich bin zu euch gekommen, weil ich etwas tun wollte.» Er sprach in klaren, kantigen Worten. Die schönen Hände passten irgendwie nicht zu dieser geradlinigen Art.
    «Penkin brabbelt viel. Er hört sich selbst gerne reden», antwortete Grischa und hob dabei seine Stimme, um sicherzugehen, dass es das Grüppchen nebenan auch hörte. Dass Penkin es hörte.
    Sergej musterte ihn kurz, überrascht, und blickte zu den anderen hinüber. Penkin reagierte nicht, er war in sein Gespräch vertieft oder tat so. Das war egal. Sich mit ihm anzulegen machte nicht genug Spaß.
    «Wir reden hier nicht nur. Wir planen konkrete Unternehmungen. Wir werden was verändern. Manche von uns», fügte er hinzu, leiser, der Wirkung wegen.
    «Wer plant? Planst du?»
    «Unter anderem ich. Hättest du Feuer?» Er holte nun doch seine vorletzte Zigarette aus der Packung, er teilte seine Zigaretten zu häufig, das wusste er, deshalb hatte er nie genügend. Sergej fummelte in seiner Tasche und holte eine Streichholzschachtel hervor, schob sie auf, angelte ein Streichholz heraus und zündete es beim ersten Streich an. Elegant, dachte er, diese grazilen Finger. Grazil, das Wort kam ihm sonst nie in den Sinn. Er streckte seinen Kopf mit der Zigarette im Mund dem Streichholz entgegen, zog einmal kräftig und ließ seinen Blick wie zufällig über Sergejs Unterarm schweifen.
    «Bist du im Dunkeln einer Katze begegnet, oder was ist da passiert?», fragte er und zeigte auf den Kratzer, beinahe hätte er ihn berührt.
    «So in der Art», antwortete Sergej ausweichend, ohne seine Arme

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